Ausgabe 05 - 2006 berliner stadtzeitung
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Klare Worte im Alltagsdelirium Kottbusser Tor

Die Initiative „Mütter setzen Grenzen" will Probleme im Kiez langfristig angehen

Kottbusser Tor, Kreuzberg – ein sagenumwobener Ort im Dickicht der Berliner Stadtteilmythen. Bilder im Kopf, Klischees auf der Zunge: „Sozialer Brennpunkt", Alkohol- und Drogenkonsumenten, Dealer und Obdachlose neben türkisch-deutschen Anwohnern und Studenten in sanierten Altbauten auf der Suche nach Multikulti-, Bio-, Alternativ- und 1. Mai-Atmosphäre. Dazwischen Kaiser's, Dönerläden, Kioske, Internetcafés, die bunte Oranienstraße und der dunkle U-Bahnhof. Geheimtip und Tourismusattraktion für einige wenige – Alltagsdelirium für viele.

In diesem Umfeld steht seit Ende Mai 2005 jeden Sonntag eine Gruppe von türkischen Müttern am U-Bahn-Eingang Adalbertstraße und fordert, mit Megaphon, Unterschriftenliste und Flyer in der Hand, lautstark: „Drogendealer weg ­ raus aus Kreuzberg". Eine Überraschung und ein gefundenes Fressen zugleich für die „Kiezexperten" aus der Medien- und Politikwelt.

Provokant waren ihr Auftreten, ihre Forderungen, ihr Sprachgebrauch, aufsehenerregend ihre Nachtaktionen mit Taschenlampen, in denen sie die Drogendealer aufscheuchten, die dort ihr Unwesen treiben. Die Frauen provozierten bewußt, weil sie gehört werden wollten ­ und schafften es auch. „Wenn was passieren soll, wenn sich was verändern soll im Kiez, dann werden wir Mütter das anleiern müssen, denn von den Vätern habe ich noch nie viel erwartet", sagt Güner Arkis, eine der Frauen. Gemeinsam mit zwei türkischen Vätern fing sie an, Unterschriften zu sammeln. Als die öffentlichen Aktionen begannen, verschwanden diese jedoch. Aus der Elterninitiative wurde die Initiative „Mütter ohne Grenzen".

Nach ein paar Monaten reichten einigen Frauen die punktuellen Demonstrationen und Taschenlampenaktionen nicht mehr aus. Sie wollten wirkungsvoller und vor allem langfristiger gegen die Kiezprobleme vorgehen, wollten keinen Aktionismus mehr, keine Selbstdarstellung und keine Vereinnahmung durch „soziale Konzerne". „Wir wollen nicht nur Mutter Teresa spielen", erklärt Arkis. In der im September 2005 gegründeten neuen Initiative „Mütter setzen Grenzen" arbeiten inzwischen dreizehn Frauen mit.

Die Frauen bauten vier Arbeitsgruppen zu den Themen Drogen, sexueller Mißbrauch, Zwangsheirat und Wohnungsnot auf. Sie wollen betroffenen Müttern, Vätern, Frauen und Jugendlichen einen Raum zum Austausch über Probleme und Lösungsmöglichkeiten bieten. „Hilfe zur Selbsthilfe" ist das Motto.

Darüberhinaus können sich die Betroffenen auf Wunsch auch von einer Psychologin und einer Rechtsanwältin professionell beraten oder an andere erfahrene Initiativen weiterleiten lassen. Das Engagement von „Mütter setzen Grenzen" geht jedoch über reine Gesprächs- und Beratungsrunden hinaus: Im Falle einer Frau, die sich nicht zutraute, nach einem mehrmonatigen Aufenthalt im Frauenhaus alleine mit ihren drei Kindern in ihre Wohnung zurückzukehren, zog eine von „Mütter setzen Grenzen" für zwei Monate zu ihr. Sie begleitete sie in dem Prozeß „selbstbestimmt und frei leben zu lernen".

In der AG Zwangsheirat bieten die Frauen neben Gesprächen und (Rechts)- Beratungen auch die Vermittlung zwischen der Betroffenen und den Eltern sowie den Aufenthalt an einem geheimen Zufluchtsort an.

Die Frauen von „Mütter setzen Grenzen" sind von den Problematiken selbst betroffen und empfinden dies als Vorteil. Arkis dazu: „Das kannst du nicht machen, wenn du Mitglied einer Ini bist, du mußt es mit Haut und Haaren spüren, was es heißt, sexuell mißbraucht zu werden, was es heißt, zwangsverheiratet zu werden, was es heißt, als junges Mädchen illegal abtauchen zu müssen, was es heißt, wenn jemand vor deinen Augen in die Drogenszene abrutscht, was es heißt, wohnungslos zu sein ­ und das haben wir alle durch."

Die AGs arbeiten jedoch nicht nur nach innen, sondern auch nach außen: Die Frauen in der AG gegen Drogenmißbrauch schreiben an dem Straßentheaterstück Verdrück dich nicht, das sie im Sommer an den Brennpunkten Kottbusser Tor, Hermannplatz und Zoo aufführen wollen. Neben Alltagsgeschichten über Drogenmißbrauch von Jugendlichen und den Einsatz von Kindern als Drogenkurieren enthält es traditionelle türkische Klagelieder, in denen Mütter um ihre verlorenen Kinder weinen.

Ihre politischen Forderungen drücken die Frauen von „Mütter setzen Grenzen" in einer Unterschriftensammlung aus, in der sie die Legalisierung von „weichen" Drogen fordern sowie mehr Druckräume für User, unter anderem einen vor dem Reichstag. Denn „wenn man einen Druckraum vor eine Kita und vor einen Schülerladen stellt, dann kann auch einer vor den Reichstag" meint Arkis.

Arkis ist Sozialarbeiterin und lebt seit fast 40 Jahren in Deutschland. Sie hat als Kind gegenüber vom Bethanien gelebt, war in der Hausbesetzerszene. Schon immer hat sie sich eingemischt, um „sich selbst zu spüren, sich zugehörig zu fühlen". Sie lebt gesellschaftspolitisches Engagement – vor allen Dingen in ihrem Kiez. Angenommen und integriert fühlt sie sich trotzdem nicht in Deutschland. Ihre Mutter arbeitete in einer Fabrik, und die einzigen Worte, die ihr Chef von ihr verlangte, waren: „An", „Aus", „Sauber machen". Mehr nicht. Diese Bilder haben sich in Arkis' Gedächtnis eingegraben und in das vieler Menschen der zweiten Generation, die sich irgendwie „heimatlos" fühlen. Oft, meint sie, werde sie gefragt, weshalb in ihrer Initiative überwiegend türkische Frauen sind. Für Arkis ist das einleuchtend: Sie hat als türkische Mutter eine ganz andere Geschichte, eine ganz andere Betroffenheit als deutsche Mütter.

Pary El-Qalqili

www.muettersetzengrenzen.de

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