Ausgabe 05 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

ditte & menschenkind

Für alle Fälle flaggen

Was die ganze Welt betrifft, kann den beiden nicht am Auspuff vorbeigehen, wenn sie auch als Paar auf dem Zahnfleisch kriechen – dafür hat Conradt Koch-Kämmnitzsch gesorgt, über den wir bald den Mantel des Schweigens breiten wollen, auch in deinem Interesse, lieber Leser.

Er hat es doch zu bunt getrieben. Das Letzte: Mit schwergehendem Atem hat er Ditte für deren Rettungsaktion „Ziegenhals" gedankt (siehe scheinschlag, der letzte) und, indem er die Hände um ihren Busen schloß, sie zu seiner Busenfreundin erklärt, was Ditte ihm mit Auf-die-Finger-hauen ausschlug. „Rasch an ihr vorbei! Sie ist wie alle!" Mit diesem Hebbelzitat schlug er die Tür hinter sich zu. „Lösch ihn von deiner Festplatte", riet Menschenkind mit einer hörbaren Genugtuung in der Stimme.

Nun ist er abgehauen, und die beiden können wieder durch die festlich geschmückte Hauptstadt flanieren. Zu Gast bei Freunden! Ditte fühlt sich erinnert an die prekäre Völkerfreundschaft, den schrägen Gebrauch des Freundschaftsbegriffs im abgebrannten Kinderland, angefangen beim FDJ-Gruß und endend bei den „Freunden", wie eher abfällig in jenen Jahren die Russen, oder abstrakt-konkret gesagt, die Sowjetmenschen genannt wurden. Ist sie denn für alle Zeiten verdorben für das Gute und Schöne, nur weil es weiland mißbraucht wurde? Arm in Arm flaniert sie mit ihrem Freund, den sie auch, wahrscheinlich aus jener Erschütterung ihres Urvertrauens heraus, ins Gute und Schöne lieber Freundchen nennt. An der Ecke, wo die Magistrale mit der Nebenstraße kurzen Prozeß macht und sie einfach schluckt, sorgt der originalgetreue Nachbau des Olympiastadions, ausgeführt in Streichholz- und Wäscheklammer-Technik, im Schaufenster des Gemüsehändlers Bin Laden für Aufsehen. Eine Menschentraube hat sich dort gebildet, und die auf den guten Plätzen nahe der Scheibe drücken sich an derselben ihre Nasen platt, während die auf zwangsläufiger Distanz Verharrenden Wetten abschließen über die Stückzahl an Streichhölzern und Wäscheklammern, die dieses Wunderwerk verschlungen hat. Einer mit der grünen Schürze des hiesigen Gemüsehandels ruft über die schwarzen Wettkämpferköpfe hinweg: „Zweitausend Schweizer Hooligans! Rütli-Schwur-Anschlag auf unsere verrufene Schule! Manche haben sich schon vor Wochen in der Kanalisation verborgen!" Menschenkind versucht Dittes unverhohlene Neugier umzulenken, gleichsam zu kanalisieren, denn er ahnt, daß diese offenbar erfundene Info sie wieder auf die Rütli-Spur bringt, und um dieses Thema herum haben sie sich schon reichlich zerzaust. Außerdem fürchtet er den Ausbruch von negativer Leidenschaft, denn schließlich hat die Schweiz die Türkei geschlagen und nun müssen alle für Deutschland sein. „Komm, Ditte, ich zeige dir weitere weltmeisterliche Schmuckstücke!"

Schon an der nächsten Ecke ist noch so ein erstaunlicher Laden! Dort hat die Fahrschule ,Schatten Arabiens' mehrere Spielfelder mit selbstgeschnitzten Figuren besetzt, die in Echtzeit simultan zum Spielverlauf vollautomatisch bewegt werden, gleichsam computergesteuert.

„Willst Du die nicht doch lieber sehen als hier das olle Olympiastadion?"

Wie gut doch Menschenkind seine Ditte kennt! Ja, das wolle sie sehen, bejaht sie, ganz Feuer und Flamme schon für die Vorstellung von einer neuen Möglichkeit.

„Und du mußt wissen, alles handgeschnitzt! Den Erzgebirglern abgeschaut! Mindestens so schön wie die Pyramiden!"

„Die von Gizeh? In der Fahrschule ,Schatten Arabiens'?"

„Nein, mein Kind", wirft Menschenkind leutselig ein. „Wir haben schließlich auch unsere Pyramiden! Die Weihnachtspyramiden aus dem Erzgebirge waren Anregung zur Ausführung jener Spielfeldfiguren!"

Tatsache. Da, im Schaufenster unterhalb der schwarzrotgoldenen Beflaggung des fünfstöckigen Hauses, steht der Ballack neben dem Kahn! Handgeschnitzt, und all die anderen. Sie ziehen die beifälligen Blicke der Staunenden auf sich.

„Und, sobald das Spiel in Echtzeit angepfiffen wird, bewegen die sich computertechnisch!" füttert der Fahrschulbesitzer auf seinem kleinen Rasenbänkchen vor der Tür die Menge an. Er verteilt Schokohohlkörperosterhasen, die, neu eingekleidet, als niedliche Schoko-Goleos Auferstehung feiern. Ditte erhält außerdem von ihm ein Riesenüberraschungsei mit der Aufschrift: „Offizieller Fan der Nationalelf".

Was die Leute nur haben! Kann man patriotischer sein?

Brigitte Struzyk/Dieter Kerschek

www.fanfürdeutschland.de

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