Ausgabe 03 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Heimweh

... als ich das erste Mal mit der U-Bahn ohne Halt unter dem Osten hindurchgefahren war. Voltastraße. Noch immer die warnende Stimme, dies sei der letzte Bahnhof in Westberlin, der Zug fuhr an, wieder Herzklopfen, das Gefühl der Enge um die Brust herum. Bernauer Straße. Ich starrte in das dämmrige Licht, sah schattenhaft die Umrisse eines Bahnpolizisten. Rosenthaler Platz. Uralte Reklameschilder, die schmutzigen, schwefelgoldenen Kacheln des Bahnhofs, und ungefähr auf der Höhe des zweiten Stationsschildes hatte ich plötzlich das Bild der Straße fünf Meter über mir vor Augen, das Haus Nummer fünf, es war gegen eins, die Kinder mußten aus der Schule gekommen sein, saßen im Vorderzimmer unter einem Druck von Miró beim Mittagessen ­ da, in diesem Augenblick zog sich alles in mir zusammen, und ich konnte sekundenlang keine Luft holen.

(Klaus Schlesinger, 1993, über seinen Aufenthalt
in Westberlin in den siebziger Jahren)

Marxwalde, Sommer 1975, 29 Erstklässler lagen am ersten Abend ihrer ersten Ferienlagerfahrt in den Betten. Das seltsame Vakuum irgendwo zwischen Brust und Bauch kam plötzlich, ohne Vorwarnung. Und es tat nicht nur höllisch weh, es war auch noch hochgradig ansteckend. Nachdem das erste Kind angefangen hatte, vernehmlich ins Kissen zu schluchzen, dauerte es keine Viertelstunde, bis der ganze Schlafsaal heulte. Zwei völlig überrumpelte Betreuer hatten alle Hände voll zu tun, 29 Siebenjährige zu trösten.

30 Jahre später läßt Bundesbauminister Wolfgang Tiefensee ganz offiziell „das Heimweh fördern" und unter diesem Motto sogenannte Heimatschachteln packen: 18- bis 30jährigen Abwanderern aus Magdeburg, die angesichts der Perspektivlosigkeit im deindustrialisierten, schrumpfenden Osten flüchten und der Arbeit hinterher gen Westen ziehen, soll damit „der Abschied versüßt" und gleichzeitig „ihre Bindung an Sachsen-Anhalt erhalten und gestärkt werden". Die Pakete enthalten Gutscheine für Bars und Heimspiele des SC Magdeburg, das Buch Magdeburger Mordsgeschichten, Skatkarten, regionale Produkte, ein E-Paper-Abo der Magdeburger Volksstimme sowie „Informationen zu Rückkehroptionen und Existenzgründung in Ostdeutschland". Die Ostpakete sind Teil eines „Pilotprojektes zur Förderung der Rückwanderung in die neuen Bundesländer mit dem Credo "Weggehen und Wiederkommen'". Die Politik hat den ökonomischen Faktor Heimweh entdeckt.

Wer nach Heimweh fragt, wird Begriffe hören wie Heimat, Wurzeln, Zuhause, Zugehörigkeit, Erinnerung; auch: Illusion, Nostalgie oder Fernweh. Oder: Heimatluftwurzeln. Auslöser (und Tröster) können die unterschiedlichsten Dinge sein: der Geschmack einer speziellen Wurst. Landschaften. Stimmen auf dem Anrufbeantworter. Sogar jene völlig sinnfreie Webcam auf der Senatswebsite, die Stunde um Stunde, Tag um Tag immer denselben Blick auf die nun mal völlig immobilen Dächer von Mitte bietet: Die einzige Variable ist die Farbe des Himmels.

Das Phänomen Heimweh galt über Jahrhunderte als „Krankheit an sich". 1688 erschien in Basel die Dissertatio medica de Nostalgia oder Heimwehe des Arztes Johannes Hofer, die erstmals das Kunstwort Nostalgia als medizinischen Fachausdruck für Heimweh enthielt. Hofer sah die Ursache der Krankheit im Wechsel der Umgebung und damit veränderter Lebensweise, anderer Luft und fremden Bräuchen: Bei den Heimwehkranken blieben die Lebensgeister in jenen Fasern des Gehirnmarks gebunden, in denen die Vaterlandsideen eingeprägt seien. Die Lebensgeister könnten so nicht mehr in andere Teile des Gehirns gelangen und deren Funktionen unterstützen.

Im 18. Jahrhundert bemühte man eher physiologische Erklärungen. Der Aufklärer Johann Jakob Scheuchzer sah die eigentliche Ursache des Heimwehs in der Änderung des Luftdrucks: Wenn die Schweizer aus der feinen, leichten Luft ihrer Berge ins Flachland kämen, würde der höhere Luftdruck ihre weniger stabilen Hautfäserchen zusammendrücken, das Blut gegen Herz und Hirn treiben und so das Heimweh verursachen.

Wer Heimweh hat, dreht sich um, um etwas (wenn auch nur vorübergehend) Zurückliegendes, Entferntes, dennoch Existierendes wahrzunehmen: Heimat, Zuhause. Aber Heimweh gründet nicht nur auf dem Weggehen: Es kann auch Verschwundenem gelten, Dingen oder Atmosphären, die es so nicht mehr gibt. In seinem „Brief nach Island" beschrieb 1997 der Schriftsteller Klaus Schlesinger das zunehmende Gefühl der Fremdheit angesichts der massiven Veränderungen Ostberlins, die er nach seiner Rückkehr aus dem Westteil der Stadt registrierte ­ und damit verbunden die Beobachtung einer Differenz: „Auch deshalb fühle ich mich in meiner eigenen Stadt manchmal wie ein Gast, und wenn ich es gegenüber meinen westlichen Mitbürgern äußere, stoße ich meist auf Unverständnis. Mein Freund Bernhard zum Beispiel schüttelte den Kopf und sagte, er könne zu keiner Stadt meine Stadt sagen, so ein Gefühl kenne er nicht. Er ist in Freiburg geboren, in Osnabrück und Westberlin aufgewachsen, hat in München und Hamburg gelebt, wollte gerade für ein paar Jahre nach Ostasien, als die Mauer fiel und er sich entschloß, doch wieder nach Berlin zu gehen. Kein untypischer Weg für Intellektuelle westlicher Prägung: Sie folgen meist dem Angebot von Arbeit, in jungen Jahren dem für die Eltern, später dem für sie selbst. Dabei ist mir wieder eingefallen, wie wenig Adressen ich im Vergleich zu meinem Westleben im Osten hatte und daß die Existenz im Realsozialismus wohl vor allem etwas für seßhafte Menschen war."

Es paßte zu jener Diskussion Ende der Neunziger mit einem Freund, gleichaltrig, aus dem Westen: ob Menschen ihrem Wesen nach eigentlich Nomaden oder seßhaft wären. Er plädierte für das Nomadentum, die Ostlerin widersprach. Und dachte dabei auch an die Sätze des Rabbiners Wolf-Günther Plaut, der 1934 aus Berlin in die USA emigriert war, später zum Experten für Flüchtlings-, Asyl- und Migrationsfragen wurde und die kanadische Regierung dazu beriet. Plaut hatte gesagt: „Hören Sie: 99,9 Prozent aller Menschen würden doch lieber da bleiben, wo sie zu Hause sind. Wer will schon Flüchtling werden?"

Mit dem Ende des Realsozialismus war auch im Osten die Seßhaftigkeit zum Auslaufmodell geworden: weil die Grenzen plötzlich überschreitbar waren; weil Wohnungen keine Mangelware mehr waren; vor allem aber: weil die eigentliche Basis dafür abhanden gekommen war. Zwei Millionen Menschen, die seit der Wende die neuen Bundesländer Richtung Westen verlassen haben, die meisten von ihnen, weil sie im Osten angesichts mangelnder Jobs, grassierender Arbeitslosigkeit und schrumpfender Regionen keine Perspektive für sich sahen, erzeugen einen Heimwehmarkt für Arbeitsemigranten. In Städten wie München oder Stuttgart florieren Ostproduktläden, im Internet Rückhol- und Heimweh-Seiten, die MV4you heißen oder Sachse-komm-zurueck. In München gibt es inzwischen einen Stammtisch von Weißwasseranern, auf der Website Heimweh-nach-MV gibt ein Ticker die neuesten Termine von Stammtischen in Hildesheim und München bekannt.

Auch Simone K. hat ihr Glück mehrfach im Westen versucht ­ und ist doch wieder in ihre Heimatstadt Lauchhammer zurückgekehrt, auch „wegen Mutti", die dort ein Imbißstübchen betrieb, wo Simone aushalf. Inzwischen mußte auch der Imbiß aufgeben: keine Kaufkraft, keine Kunden. In Lauchhammer, der einstigen Braunkohlestadt, gähnen nur noch abgeräumte Industrieflächen zwischen den Wohnvierteln. Simone K. hat zwei Kinder, ist 35 Jahre alt, seit sieben Jahren arbeitslos: „Also soll ich mich drüben bewerben. Also müßte ich wieder meine Kinder aus allem rausreißen: aus der Schule, dem Kindergarten. Es kann nicht sein, daß wir alle immer nur gehen müssen. Irgendwann hassen die uns dort, weil es dann heißt, daß wir ihnen die Arbeit wegnehmen. Ich will ja nicht immer nur weggehen. Ich würde eigentlich gern hier was schaffen." Sie weint viel, führt Selbstgespräche, erzählt, daß sie „im Kopf Filme dreht, in denen alles gut ausgeht". Die Seßhaftigkeit hat hier einen hohen Preis: Depressionen sind in Lauchhammer längst kein Anlaß mehr, einen Psychologen zu konsultieren ­ nur noch flächendeckender Normalzustand.

Einen Preis hat allerdings auch das moderne Nomadentum, das ­ mehr oder minder notgedrungen ­ den Forderungen nach permanenter Verfügbarkeit, Flexibilität und Mobilität folgt. Wo sich Bezugspunkte, Koordinatensysteme, Beziehungsgeflechte und vor allem die Existenzgrundlagen dafür auflösen, nehmen Begriffe wie Zuhause oder Familie plötzlich Luxuscharakter an: „Das muß man sich erst mal leisten können." Plötzlich dreht sich das Wort Heimweh: Die Sehnsucht gilt nicht mehr einem tatsächlichen Zuhause, das man verlassen hat, sondern einem, das es bislang noch nie gab; es gilt nicht mehr einer bestimmten Heimat der Vergangenheit, sondern einer gänzlich ungewissen, vielleicht irgendwann irgendwo einmal in der Zukunft erreichbaren.

Manche nennen das Verlorenheit. Und anders als bei den Siebenjährigen in dem Schlafsaal läßt sich das Ende dieses Zustands nicht in Stunden abzählen.

Ulrike Steglich

* Ausstellung „Heimweh": 39 Künstler zeigen ihre Arbeiten zum Thema bis zum 27. April in der Otto-Nagel-Galerie, Seestr. 49, Wedding. Eröffnung am 31. März, 20 Uhr. Öffnungszeiten: Di bis Fr 14 bis 19 Uhr, Sa 11 bis 18 Uhr (ebenso Karfreitag und 15. April). Finissage: 27. April, 19 Uhr. www.otto-nagel-galerie.de

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