Ausgabe 03 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Einfacher ist es, das Risiko zu verdrängen"

Hartwig Berger zur nichtgeführten Debatte über die Gefahren der Atomkraft

Wenn man von den Jahrestagen absieht, ist der Super-GAU von Tschernobyl aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwunden. Man ist wieder zur Tagesordnung übergegangen. Die Anschläge vom 11. September 2001 zwingen jedoch zum erneuten Nachdenken über die Risiken der Atomenergie: Die Terroristen haben die Verwundbarkeit der westlichen Zivilisation mit ihrem selbstgeschaffenem Gefährdungspotential eindrucksvoll bewiesen. Warum tut man aber immer noch so, als sei nichts geschehen? Hartwig Berger, Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Energie von Bündnis 90/Die Grünen und Vorsitzender des Ökowerk e.V., weist auf das Selbstgefährdungspotential hin und fordert eine öffentliche Debatte über die Nutzung der Atomenergie.

Muß man heutzutage wirklich mit einem Flugzeugangriff auf AKWs rechnen?

Gegenfrage: Mußte die amerikanische Gesellschaft im Jahre 2001 mit der Zerstörung der Twin Towers rechnen? Terrorangriffe haben ihre Stärke durch den Überraschungsfaktor, dann, wenn keine Vorkehrungen getroffen werden.

Aber ich kann auch weltpolitisch argumentieren. Die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten spitzen sich von Tschetschenien bis Palästina schrittweise zu. Die Akteure, die mit Terror arbeiten, werden sie womöglich eskalieren. Da sie im Gewaltkonflikt mit Staaten strukturell unterlegen sind, werden sie ihre Gegner an Punkten angreifen, an denen diese besonders verwundbar sind. Und besonders verwundbar sind die westlichen Gesellschaften durch ihre modernen Technologien und durch die Zerstörung solcher Anlagen.

Wie sicher sind die deutschen Atomkraftwerke vor einem Angriff mit einem Flugzeug?

Es war von Anfang an klar, daß AKWs gegen Kriegsereignisse nicht wirklich zu schützen sind. Und dazu zählt natürlich auch ein gezielter Flugzeugabsturz. Die Frage wurde bereits Mitte der siebziger Jahre von Sicherheitsexperten ausführlich diskutiert, und man kam zu dem Ergebnis, daß es kein Sicherheitskonzept für solche Fälle gibt. Immerhin hat man dann beschlossen, neuere Kraftwerke, das sind knapp die Hälfte der deutschen AKWs, so auszulegen, daß sie wenigstens gegen den Absturz eines Militärflugzeugs gefeit sind. Aber beim Absturz von Großflugzeugen gibt es keine Sicherheitsgarantien.

Hat sich das Bewußtsein nach dem 11. September geändert?

In Deutschland wie in anderen Ländern hat sich nichts geändert. Es wurden keine Konsequenzen gezogen.

Was hält die Politiker davon ab, etwas zu unternehmen?

Wenn sie etwas unternehmen, sind die wirtschaftlichen Folgen sehr weitreichend. Dadurch kommen sie in den offenen Konflikt mit der Atomwirtschaft. Mindestens ist die umgehende Abschaltung aller AKWs nötig, die nicht einmal gegen Militärflugzeuge geschützt sind, geschweige denn gegen vollgetankte Großraumflugzeuge. Aber auch die anderen Anlagen können nicht so weiterbetrieben werden wie jetzt, man müßte den Atomausstieg insgesamt beschleunigen. Eine zweite Möglichkeit, die die Betreiber aber als zu teuer ablehnen, wäre der Bau einer zweiten Reaktorhülle.

Aber auch dann bleibt das Risiko direkter Sabotageangriffe. Greenpeace hat 2003 in England eindrucksvoll vorgeführt, daß man ein AKW besetzen und bis in das Reaktorgebäude vordringen kann, ohne daß man durch Sicherheitspersonal daran gehindert wird. Für Selbstmordattentäter ist es relativ einfach, ein AKW in die Luft zu sprengen.

Wenn die Atomenergie immer noch viele Befürworter hat, kann das doch nicht nur an wirtschaftlichen Interessen liegen. Gehört es zur condition humaine dazu, daß man versucht, Probleme auszublenden?

Es gibt eine gesunde menschliche Neigung, die Risiken, mit denen wir leben und an denen wir nichts ändern können, zu verdrängen. Es ist durchaus rational, sich nicht ständig mit der Gefahr eines Erdbebens zu beschäftigen. Diese Haltung wird aber irrational, wenn Menschen in hochtechnologischen Gesellschaften solche Risiken selber erzeugen. Denn hier stellt sich die Frage: Können und wollen wir uns die Risiken leisten, die mit dieser Technologie einhergehen?

Sie fordern, vor der Einführung einer Großtechnologie die Risiken abzuwägen. Nun haben wir die Atomkraft bereits. Was empfehlen Sie den modernen Gesellschaften?

Man sollte eine ernsthafte Debatte über das Ausmaß des Risikos führen, das wir mit dieser Technologie eingegangen sind. Wir müssen klären, ob wir dieses Risiko tragen wollen oder nicht. Meine Prognose ist, daß man zu dem Schluß käme, daß nicht. Es muß eine Debatte geben, die bisher nicht geführt wurde.

Nun ist in Deutschland die Debatte über Atomkraft weiter vorangeschritten als anderswo. An welcher Stelle des Weges befinden wir uns?

Die Diskussion über die Gefahren der Atomkraft war vor 15, 20 Jahren weiter entwickelt. Auch heute ist sie in Deutschland nicht auf einem höheren Stand als etwa in Frankreich. In den USA ist die Diskussion ebenfalls intensiver. EU-weite Umfragen haben ergeben, daß in Südeuropa die Bevölkerung noch kritischer zur Atomkraft steht als in Deutschland. Lediglich in den Ländern Mittelosteuropas ist die Haltung deutlich unkritischer. Deutschland liegt also nur im Mittelfeld.

Könnte der gegenwärtige Stand der Diskussion ein Plebiszit sein: Wir diskutieren nicht über die Atomkraft, also wollen wir sie?

Nein. Die Verweigerung einer Auseinandersetzung mit einem Problem kann kein Plebiszit sein. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung wird über das Ausmaß der Gefahren durch die Atomkraft im Unklaren gelassen. Bundesregierung und Fachbehörden haben in den letzten Jahren alles getan, um die Gefahren kleinzureden oder zu tarnen. Anders ist es nicht zu erklären, daß die Ergebnisse über die Folgen von Flugzeugabstürzen strikt geheimgehalten worden sind.

Ich hätte von einem Umweltminister gleich welcher Couleur erwartet, daß er vor die Öffentlichkeit tritt und sagt: Wir können die AKWs nicht schützen und müssen gemeinsam überlegen, welche Konsequenzen wir daraus ziehen. Eine Regierung, die so auftritt, ermutigt zu einer öffentlichen Debatte.

Inwieweit ist die parlamentarische Demokratie den Gefährdungen durch die selbstgeschaffenen Großtechnologien noch angemessen?

Wir wissen, daß Diktaturen jegliche Debatte über die Atomkraftnutzung abgewürgt haben. In der DDR haben wir das hautnah erleben können. In Weißrußland wird eine Debatte nicht nur über die Nutzung der Atomkraft, sondern auch die Folgen der Katastrophe von Tschernobyl unterbunden. Im Iran gibt es nicht den Ansatz einer kritischen Diskussion über die zivile Nutzung der Atomenergie. Und die Bevölkerung in den mittelosteuropäischen Ländern leidet immer noch darunter, daß in der Zeit, in der die Atomtechnologie entwickelt worden ist, nur mit Fortschrittsideologie gearbeitet und die kritischen Aspekte unterschlagen wurden.

Die parlamentarische Demokratie ist von allen Regierungsformen am besten geeignet, um das Thema an die Öffentlichkeit zu bringen und zu einer Entscheidung zu kommen. Es gibt in den demokratisch organisierten Ländern wenigstens Versuche einer öffentlichen Debatte. Einen anderen Weg sehe ich nicht.

Abgesehen davon, daß seitens der Bundesregierungen versucht wird, bestimmte Forschungsergebnisse unter Verschluß zu halten, liegen alle Fakten und Argumente auf dem Tisch. Was könnte man tun, um eine öffentliche Debatte anzuschieben?

Dazu bedarf es vor allem provokativer und mutiger direkter Aktionen der Umwelt- und Anti-Atombewegung wie die Aktion von Greenpeace, die die Verwundbarkeit der Atomkraftwerke gezeigt hat. Es ist in Deutschland im Moment sehr schwierig, breite Kreise für solche Aktionen zu mobilisieren. Aber worauf ich in einer parlamentarischen Demokratie setze, ist der Druck von unten. Ohne eine Bewegung, die die Risiken der Atomkraftnutzung offenlegt und skandalisiert, wird sich nichts bewegen. Dazu sind die wirtschaftlichen Strukturen und Interessen viel zu verfestigt und die Politik viel zu sehr Sklavin der Interessen der großen Konzerne, eben auch der Atomindustrie.

Welche Rolle spielen Abgeordnete, Parteien und Parlamente?

Es gibt Abgeordnete, die sich engagieren. Das reicht aber nicht aus. Die Macht der Abgeordneten ist begrenzt, gerade in der Opposition. Unter den grünen Abgeordneten gibt es mehr Bewegung, seit sie in der Opposition sind. Vorher haben sie sich der Befriedungsstrategie ihres damaligen Umweltministers untergeordnet.

Interview: Benno Kirsch

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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