Ausgabe 03 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Schadhafte Leitungen und fehlerhafte Analogien

Kurzschlüsse bei Drehstromanlagen, im Körper und im Text

Von einem elektrischen Kurzschluß spricht man, wenn es zwischen zwei aktiven Polen, etwa dem Plus- und dem Minuspol einer Batterie oder dem Außen- und dem Neutralleiter einer Drehstromanlage, zu einer direkten leitenden Verbindung kommt. Die elektrische Spannung sinkt dann auf ein Minimum, während der Strom einen Maximalwert erreicht. Ausgelöst werden solche Kurzschlüsse von Schaltungsfehlern oder von Isolationen, die durch Alter oder Überbeanspruchung schadhaft geworden sind. Man unterscheidet zwischen Kurzschlüssen durch metallische Berührung und solchen über einen Fehlerwiderstand. Usw. Man kann das im Lexikon nachlesen.

So weit, so unverständlich. Man muß allerdings nichts von Elektrotechnik verstehen, um zu wissen, daß Kurzschlüsse etwas Ärgerliches und Schädliches sind, daß Leitungen und Geräte dabei kaputtgehen können. Umso merkwürdiger berührt die Metaphorik, die von diesen elektrischen Pannen inspiriert ist. Denn die ist einigermaßen konfus und scheint die physikalischen Fakten zu verkennen. Werden nämlich Sachverhalte oder Begriffe kurzgeschlossen, schließen Personen sich kurz, dann ist ja von keiner Störung die Rede. Im Gegenteil: Dann fließen Informationen oder Assoziationen, dann funktioniert Kommunikation. Überhaupt scheint der Begriff „Kurzschluß" sich eines unverdient positiven Images zu erfreuen. Es sind keineswegs nur Internetforen oder Zeitschriften von Elektrotechnikern, die den Namen Kurzschluß tragen. Bei einer Netzrecherche stößt man auch schnell auf eine Schülerzeitung und ein Jugendradio dieses Namens.

Auf den Boden der elektrotechnischen Fakten führt uns allerdings die „Kurzschlußhandlung" zurück. Das Bild erscheint nachvollziehbar und motiviert: Es kommt zu einer „Entladung" von Effekten, Sicherungen brennen durch. So trägt ein Buch von Jens Becker den Titel Kurzschluß, in dem es um den berühmten Amoklauf von Erfurt anno 2002 geht ­ und legt damit eine mindestens problematische Interpretation nahe: Die Tat läßt sich nicht erklären, eine nicht vorhersehbare Panne im Gehirn des Täters, die wie böse Naturgewalt über ihn kommt, ist dafür verantwortlich.

Zurück in eher windige Metaphernwelten geraten wir mit einem Buch von ungleich höherer literarischer Dignität: Kurzschlüsse. Wien von Ilse Aichinger. Es versammelt kurze Prosastücke, die sich auf bestimmte Orte in Wien beziehen, auf den Rennweg oder das „Ende der Silbergasse". Diese Kurzschlüsse scheinen also wieder etwas mit Assoziationen zu tun zu haben.

Journalisten kann es einfallen, im Fernsehen von einem „Kurzschluß im Körper" zu sprechen, wenn sie populär erläutern wollen, was Multiple Sklerose ist. Ich muß zugeben, daß ich von Medizin wie Elektrotechnik so wenig verstehe wie diese Journalisten und deshalb nicht beurteilen kann, wie schief dieses Bild sein mag. Wenn eine Schweizer Zeitung aber einen „nationalen Kurzschluß" ausruft, dann regt das durchaus die Phantasie an, dann denkt man vielleicht an schlimme Konflikte zwischen Kantonen kurz vor dem Bürgerkrieg. Doch nein, es handelt sich um einen ganz profanen elektrischen Kurzschluß – dort, wo man so etwas niemals für möglich gehalten hätte, bei der Schweizer Bahn, einen „Totalausfall" gar: „Alle Züge stehen still, wenn der Kurzschluß dies so will."

Peter Stirner

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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