Ausgabe 03 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

The U-Bahn goes up and the S-Bahn goes down

Musik und Theorie zum Schmunzeln: Im HAU wird eine epochale Bewegung ausgerufen

DIALOGUES. Öffne das Fenster und laß die frische Luft raus. Die bunt blinkende Gruppe vor Jeffrey Lewis versucht, die Berliner erstmal ein bißchen anzustacheln. Nicht alles, was die quirlige Gruppe auf der Bühne zelebriert, ist so leicht konsumierbar wie das lustige Liedchen von der U-Bahn, die zur S-Bahn wird – „Zurückbleiben, bitte" (repeat four times). DISCOURSES. Vor allem die experimentelle Tonbandschleifen-Bearbeitung mit zwei Kassettenabspielgeräten und einem Mischpult wies den Rhythmusmacher des Ensembles als Attraktion aus. Sehr gefühlvoll agierten übrigens die anderen mit jenem zusammen und beeindruckten die gerade zur Bühne aufgerückte Menge mit ihrem präzisen Timing auf schrägen Kinderinstrumenten.

Foto: Jörg Gruneberg

COLLABORATIONS. Zuvor war es irgendwie zu einer Pause von ca. einer Stunde gekommen, derweil die Bühne von einer Handvoll DJs bespielt wurde. Selbst Jonathan Richmans „I was dancing in the lesbian bar" konnte mich und andere nicht zum Tanzen animieren. Diese DJs hatten aber immerhin Spaß, ein bißchen Musik für sich selbst aufzulegen. ARTISTS-RUN-SPACES. Weil Stühle vom Ansager als uncool angesagt wurde, beschloß dieser im Anschluß an seine Ansage, den Saal entstuhlen zu lassen. Ich tat mich schwer, aus der bequemen Sitzposition heraus wieder Schwung zu entwickeln. Beherztes Stuhlangreifen rief jedoch wider Erwarten die Stuhlräumungsspezialisten auf den Plan.

CULTURAL PRODUCERS. Zehn Minuten braucht ein eingespieltes Team, um aus dem Saal 100 Stühle wegzuräumen. Es gibt immer etwas, was nicht zu verstehen ist. Doch 20 U-Bahnen weiter, die zur S-Bahn wurden und die Nacht erhellen, ertönt plötzlich ein erlösendes Knarzen, und jemand hat die Gitarre
eingestöpselt. INDEPENDENT CURATOR. Weißt Du, beim Antifolk kommt es nicht darauf an, ob jemand einen Soundcheck gemacht, alle Kabel auf der Bühne bereits verlegt und eine Gesangsanlage aufgebaut hat. Eigentlich. ARTIST. Aber was soll's. Heutzutage ist unprofessionell erscheinen zu wollen und dann doch perfekt vorbereitet zu sein auch kein Grund mehr, daß jemand lautstark rumpöbelt oder sich kaputtlacht. INSTALLATION. Das Team vom HAU 2 steht dem von Bayreuth in nichts nach und macht in Werktätigenmanier Kulissen und Autisten flugs zur Manövriermasse. MUTUAL EXCHANGE.

ARTISTS. Erster Programmpunkt des Abends war die Lesung von Martin Büsser, der aus seinem Buch Antifolk las. INDEPENDENT CURATOR. Natürlich war ich auf alles gefaßt. Und ich hatte meine vorgefaßte Meinung. Selbstverständlich erwähnte Büsser, wie politisch ein Lied tatsächlich rezipiert werden könne. Er scheute keinerlei Vergleiche. So sah er die Fugs von 1964 in puncto Gelangweiltsein und Nihilismus in einer Linie mit den Stooges und belegte dies anhand der Songzeilen: „Well it's 1969 OK all across the USA/It's another year for me and you/Another year with nothing to do." PROJECTS. Die Antifolk-Linie zieht er weiter über David Bowie bis Punk. Und er fand es weder authentisch noch spaßig, daß Frank Zappa & The Mothers Of Invention Anerkennung für ihr musikalisches Können beanspruchten. COLLABORATE. Mit seiner konzertiert eklektischen Musik eckt Zappa also bei Anti-Puristen an. Interessant. ART PROJECT. Ein gewisser Lach (sic!) soll das Wort Antifolk ja als erster reflexhaft ausgerufen haben. DRAWING. Büsser, der früher schon sagte, daß – „einerseits vom Punk und von Veteranen der ,Schräg'-Musik wie Jad Fair und Daniel Johnston her kommend" – Antifolk zugleich auch „all das aus den Sixties" wieder belebe, „was den Musikern erhaltenswert erscheint: Bob Dylan beispielsweise, Leonard Cohen und Allen Ginsberg, aber auch die von Adam Green und Jeffrey Lewis heißgeliebten Grateful Dead", wirkt bei der Lesung etwas steril und linkisch. RESEARCH. Sein Interesse an Musik, Details und Anekdoten stattet ihn aber mit einer lebendigen Schalkhaftigkeit aus, der viele Zuhörer – circa 150 sind gekommen – sich nicht entziehen können. So kommt es durchaus zu gelegentlichem Schmunzeln und Szenenapplaus. ARTISTIC. Büssers Formulierungen sind stimmig gesetzt und scheinen in sich schlüssig. MATERIAL. Etwas skeptisch sollte man dennoch gegenüber einem Autor bleiben, der prophezeit, bei Antifolk handele es sich „um nichts geringeres als die Rückkehr von Love and Peace aus der Erfahrung von Punk". PRESENTATION. Ich kann's nicht recht glauben, daß es hier um eine epochale Bewegung in den Dimensionen von Beat, Punk oder auch (nur) Grunge geht. PREVIOUS WORKS. Die Szenen sind mir zu überschaubar, die Oberflächen zu glatt, der Ton zu abgeklärt. Büssers Bemerkung, es mute ja vielleicht schon etwas merkwürdig an, daß es – gerade im Vergleich zur Punkzeit – nun auch simultan zur Entstehung schon die theoretische Auseinandersetzung mit der Bewegung gebe, läßt mich schmunzeln. PUBLIC. LINKING. Selbstironie kommt gut an bei mir. Noch etwas beschworene Spontaneität, Gewitztheit und Energie im Raum, und ich würde den Antis beitreten. COLLABORATIVE ART PROJECT.

Da, ein Epigone der Szene erscheint: Jeffrey Lewis. Endlich. Schält sich aus der Vorgruppe heraus, ergreift die Gitarre und singt seine Songs. NEW YORK RIO TOKYO. Sein Talent und seine Präsenz sind nach wenigen Sekunden spürbar. WARSAW. NEW ZEALAND. Das war sicher nicht so beabsichtigt, aber ich vergesse die Vorgruppe jetzt auf der Stelle. PRIMARILY. SUPERSTITION. Lewis' Ausstrahlung läßt das Publikum sofort zur Bühne hindrängen, läßt alles vergessen, was man zuvor gelernt hatte über Antifolk und selbstgemachte CD-Booklets. Egal, welcher Szene Lewis entsprang, hier ist er ein Anziehungspunkt, um nicht zu sagen: Star. CONTEMPORARY ART. Sein Gitarrenspiel ist simpel, wird aber durch seinen zurückgenommenen und gleichzeitig eindringlichen Gesang sehr wirkungsvoll bis mitreißend. Zwischenzeitlich hat Lewis dann die Gitarre gegen eines seiner Comic-Alben eingetauscht, steigt auf einen Stuhl, spricht, singt und zeigt seine Bilder, die von einer verlorenen Hand oder der russischen Geschichte handeln. HISTORY. COCKTAILS. BEER. Wie in seinen Liedern („If You Shoot The Head You Kill The Ghoul") wimmelt es darin nur so von lustigen Pointen. Jeffrey Lewis scheint – ganz im Sinne von Greil Marcus („Kunst war die Sprache des Folk-Revivals, aber im Grunde glaubte das Folk-Revival überhaupt nicht an Kunst") – ein ernstzunehmender Künstler, dem der Hang zur großen Geste instinktiv fehlt. RECEIVE. UNSUBSCRIBE. Das macht ihn als Folksänger, Popsänger – was auch immer – relativ unwiderstehlich. Eine kommende Platte darf – von mir aus – ruhig Jeffrey Lewis-Harding heißen und in Nashville eingespielt werden. Der Sound der letzten, zwischen Reed, Punk und Garfunkel angesiedelt, ist mir trotz Kramers Produktion (King Missile, Butthole Surfers) nicht genehm. Ich empfehle daher das 2003er-Album und kaufe selbst ein Hüsker Dü-Doppelalbum. SUBJECT (INSERTS selected from DOWDOS: siehe Kurzmeldung S.10).

Jörg Gruneberg

* Aktuelle Alben: Jeffrey & Jack Lewis: „City & Eastern Songs", 2005, sowie „It's the one who've cracked that the light shines through", 2003, beide Roughtrade Records

* Martin Büsser: Antifolk. Von Beck bis Adam Green. Ventil Verlag, Mainz 2005. 9,90 Euro

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 03 - 2006 © scheinschlag 2006