Ausgabe 03 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Ditte & Menschenkind: Ziegenhals ohne Teddy

Die letzte Folge von Ditte und Menschenkind schloß folgendermaßen:

„Als die Ratten fluchtartig den Keller durch einen Mauerspalt verlassen, jaulen Polizeisirenen auf. ,Kinnings, Ruhe bewahren', sind CKK*s letzten Worte."

Er hat allen Grund dazu, die beiden zu beschwichtigen. Das verrät sein diabolisches Lächeln. Es mußte nicht erst der Engel der Geschichte durchs Zimmer gehen, um Ditte die fragenden Worte in den Mund zu legen: „Ziegenhals? Das warst du?"

Irgendwie dankbar senkt CKK sein Haupt, ja, er trägt in diesem Augenblick ein Märtyrerhaupt auf seinen muskulösen Schultern, und, als hätten sie nichts besseres als beispielsweise Flucht vor, beginnt Menschenkind zu singen: „Breit in den Schultern steht wieder Thälmann vor uns wie er war!" Zwar wollte Ditte eigentlich automatisch einfallen in den Bocksgesang ihres Freundes, aber CKKs Geständnis schob die bereits auf der Zunge liegenden Töne und Worte wieder hinter die Zähne zurück. Stattdessen erscheint die Thälmannbüste von Ziegenhals vor ihrem inneren Auge, und sie sieht sich als Ostberliner Thälmannpionier strammstehen vor derselben. Die Jugendzeit, dahin, dahin ... Daß olle Teddy Thälmann kurz nach der Wende im schwarzen Zug von Ziegenhals, einem Rinnensee dieser Gegend, versenkt worden ist, konnte man damals ja noch als Vergangenheitsbewältigung durchgehen lassen. Schließlich wurde der gesunkene Schatz ja von einem Spaziergänger bemerkt und gehoben ­ immerhin war er 70 kg schwer! ­ und wieder auf seinen Sockel gesetzt. Aber nun? Die beunruhigte Öffentlichkeit mutmaßt sogar, daß ein Ost-Hasser, so eine Art Pferdeschlitzer, dahinterstecken könnte, und nun das, schnöder Frevel zur eigenen Vorteilsnahme!

„Kinnings, Kinnings, ganz recht getönt, wenn auch sehr konventionell. ,Wie er war', die Betonung liegt auf war, er ist hin. Ich habe ihn eingeschmolzen und gutes Geld dafür gekriegt von meinen Rixdorfer Freunden. Die Klingeltöne allein können meine Unterhaltskosten nicht decken. Die Verfolgtenrente habe ich selbst verschissen. Ich habe in allen Systemen immer wieder im Knast gesessen, und so kann das Versorgungsamt nicht entscheiden, zu welcher Verfolgtenart ich gehöre. Einzig und allein mein Memelland ..."

Seine Stimme geht unter in der Flut der herausbrechenden Emotionen, die ihn an Dittes Busen werfen, der zum Hort des am längsten aufgestauten Schluchzens der Welt zu werden sich anschickt.

Geradezu brutal beleuchtet das schockartig hereinbrechende Tageslicht die Szene von biblischer Wucht. Der alte Mann! Die weiße Wallemähne rührt den weichen Kern in der rauhen Schale des Kriminalkommissars, der nun einmal Ehrfurcht vor schlohweißen Haaren von Kind auf hat. Außerdem ist er im Zweifel, ob es sich nicht auch bei Ditte um eine Professionelle handelt, die gewerkschaftlich organisiert ist wie die Damen aus St. Pauli, die gegen ihn eine Klage beim Verfassungsgericht angestrengt haben wegen Störung des Betriebsklimas und Erschleichung von Dienstleistungen ...

„Halt, zurück!" ruft er seinen Mannen zu, deren Helme, Schilder und Schlagstöcke mitsamt der massigen, fast bulligen Körper nun bereits den Türrahmen derart ausfüllen, daß die seltsame Pietà im Keller wieder vom Dämmerschummer eingehüllt wird.

Sachte, fast andächtig wird die Tür von außen zugemacht. Menschenkind bricht vor Lachen zusammen. „Du warst das, alter Schwede? Das ist ein Ding. Aber ich habe die Lösung. Am 16. April, zum 120. Geburtstag von Teddy Thälmann, steht die Büste wieder auf ihrem Sokkel." Das mit Dittes Busen dauert ihm doch zu lange. Er greift ein.

(Fortsetzung folgt)

Brigitte Struzyk/Dieter Kerschek

*Conrath Koch-Kämmnitzsch, der Begründer der textierten Strophe im nonverbalen Bereich der modernen Kammermusik, wird in seinem vermutlich 100. Lebensjahr vom hartgesottenen Kern seiner begrenzten Fangemeinde liebevoll CKK genannt. Die mütterliche Linie seines weitverzweigten Stammbaums reicht bis zu den anonymen Verfasserinnen der Merseburger Zaubersprüche zurück, die prominenteste Verwandte dieses Astes ist freilich die Gattin Ernst Thälmanns. Im Memelland aufgewachsen, verschlug es den atonalen Tonsetzer in die Nähe von Adrian Leverkühn Anfang der zwanziger Jahre in den norddeutschen Raum.

www.thomasmann.de

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 03 - 2006 © scheinschlag 2006