Ausgabe 02 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Machtvakuum, Ideenvakuum

Die Geschichte einer Brache in der Lichtenberger Victoriastadt

In Zeiten moderner Stadtplanung ist die Baubrache ein Anachronismus und ein Kennzeichen, wie die Stadt von vielen, unsichtbaren Trennungslinien zwischen privatem und öffentlichem Raum durchzogen wird.

Zum Beispiel in der Victoriastadt in Lichtenberg, an der Grenze zu Friedrichshain: Das Viertel wurde zwischen 1872 und 1910 erbaut. Durch den Bau der S-Bahn-Trassen wurde es von der umliegenden Bebauung abgetrennt. Eine kleine, innerstädtische Wohninsel entstand. 1904 siedelte sich hier die Knorr Bremse AG an, für die Alfred Grenander 1913-16 das Fabrikgebäude an der Hirschbergstraße errichtete ­ ein moderner Industriebau, der von Architektur und Masse her nie Teil des Viertels war. Gegenüber, an der Schreiberhauer Straße, errichteten die Berliner Gaswerke in den zwanziger Jahren einen Gasometer. In ihrer architektonischen Präsenz dominierten diese beiden Gebäude das ansonsten reine Wohnviertel in den folgenden Jahrzehnten.

Die städtische Insellage und mangelnde Sanierung sorgten nach dem Zweiten Weltkrieg dafür, daß die Gegend langsam einen schlechten Ruf bekam. Der Industriebau der Knorr Brems AG verlor seine Bestimmung und stand leer. Dieser Leerstand und die seltsame Konstruktion des Gasometers sorgten, zusammen mit den bröckelnden Fassaden der Wohnbauten, bis Ende der achtziger Jahre für den morbiden Charme der Victoriastadt. Schließlich wurde im Frühjahr 1990 der funktionslos gewordene Gasometer demontiert. Eine große Freifläche entstand, die sich zur sofortigen Bebauung quasi anbot.

1994 wurde der mit Wohnhäusern bebaute Teil der Victoriastadt zum Sanierungsgebiet erklärt. Das leitete den Umschwung ein. Sanierung in Selbsthilfe, mit Unterstützung des Senats, sorgte dafür, daß sich das Image dieser Ecke langsam verbesserte. Kurz darauf interessierten sich die JSK-Architekten für das Gelände der ehemaligen Knorr-Bremse und des Gasometers. Verkehrstechnisch günstig am nahen Ostkreuz gelegen, schien es ihnen ideal für einen Bürokomplex. So entstand das „Dienstleistungszentrum am Ostkreuz": die Kombination eines als Denkmal geschützten Industriebaus mit einem modernen, funktionalen Bürokomplex.

Gegenüber, auf dem noch freien Gelände des verschwundenen Gasometers, sollten in zwei Bauabschnitten Wohnblöcke entstehen. Die eine Hälfte wurde auch gebaut, aber anschließend ließ sie sich nur schwer vermieten. Der Bau des zweiten Bauabschnittes wurde immer wieder verschoben. Die Freifläche des ehemalige Gasometer-Komplexes lag brach und wurde als Müllkippe, Parkplatz und Hundeauslaufgelände genutzt.

Schließlich schlossen sich Anwohner zusammen, die diesen Zustand nicht mehr länger hinnehmen wollten. Pläne für eine Zwischennutzung entstanden. Großflächige Begrünung, Kinderspielplatz, ein Fußball- und Basketballplatz sollten ­ vor allem in ehrenamtlicher Arbeit ­ entstehen. Ein kleines Stückchen Grün in einer ansonsten von den Plattenbauten jenseits der S-Bahn-Gleise dominierten Gegend. Das Stadtplanungsamt des Bezirks unterstützte dieses Vorhaben.

Die Gruppe nahm Kontakt zu JSK auf. Es kam zum Treffen zwischen einem Vertreter von JSK, einem vom Stadtplanungsamt und den Mitgliedern der Initiative. JSK hörte sich die Vorschläge an, ließ sich Pläne zeigen und zeigte sich durchaus aufgeschlossen. Schließlich rühmten sich die Architekten bei ihren Projekten damit, „unter Beachtung ökonomischer und ökologischer Vorgaben den Menschen in den Mittelpunkt" zu stellen. Die JSK-Architekten könnten sich eine Begrünung der Fläche als Zwischennutzung durchaus vorstellen. Dies aber nur im Zusammenhang mit einer Änderung des Bebauungsplanes. Die JSK-Architekten würden zur Zeit unter Druck gesetzt von der BfA, dem Hauptmieter ihres Dienstleistungszentrums am Ostkreuz. Die würden eine Erweiterung ihrer Büroflächen verlangen, und JSK sähe da nur eine Möglichkeit ­ den Bebauungsplan zu verändern und die Fläche des ehemaligen Gasometers mit Bürogebäuden zu bebauen. Die BfA drohe damit, an einen anderen Standort zu ziehen, falls JSK nicht aktiv werde. Statt Wohnbauten sollten auf der Brache also Bürobauten entstehen, und die auch gleich zwei Stockwerke höher als die umliegende Wohnbebauung. Von der Kindertagesstätte, die zu bauen sich JSK vor Jahren verpflichtet hatte, war nun gar nicht mehr die Rede.

Auf diesen Erpressungsversuch konnte und wollte das Stadtplanungsamt auf keinen Fall eingehen. Auch die Anwohnerinitiative wollte sich nicht instrumentalisieren lassen. Sie wollte eine Brache nutzen und keine Änderung bestehender Bebauungspläne. So endete das Gespräch ohne Ergebnis. Eine spätere Nachfrage bei der BfA ergab, daß diese gar keinen Bedarf an neuen Büroräumen angemeldet hätte. Der alte Bebauungsplan bleibt weiterhin bestehen, die Fläche ungenutzt. Für wie lange? Die JSK-Architekten werden sich in den kommenden Jahren kaum darum kümmern können, weil sie sich damit beschäftigen, den Umsteigebahnhof Ostkreuz komplett umzubauen und zu sanieren. Und wer weiß, was für Perspektiven sich ihnen eröffnen, nachdem das Ostkreuz-Areal in neuem Glanz erstrahlt ist?

Beim Ackerbau soll eine „Brache" dafür sorgen, daß sich der Boden nicht erschöpft und weiter fruchtbar bleibt. In der Stadt ist er nur Zeichen der fehlgelaufenen Planung seines Eigentümers. Die Ödnis einer Brache ist die Folge eines Mangels an Ideen. Oder Zeichen eines Machtvakuums, in dem Privatinteressen ziellos geworden sind und staatliche Interessen nicht mehr wirken können.

Michael Freerix

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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