Ausgabe 01 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Aberwitz als Zeitgeist

Ein Kommentar

Bei einem Parlament, das dreimal einen gleichlautenden Beschluß faßt, sind Irrtum oder Fehlinterpretationen ausgeschlossen. Die haben das so gemeint. Damit müssen wir nun wieder eine Weile leben. Mit diesem Deutschland, dessen oberste Volksvertreter den Aberwitz zum herrschenden Zeitgeist erhoben und verteidigt haben. Die wiederholte Abfuhr gegen jeden Kompromißversuch wiegt um so schwerer, als damit nicht nur die ohnehin als unzuständig geltenden „Ostalgiker" abgeschmettert wurden, sondern nun auch noch die unverdächtigen „Wendekinder". Also die kommende Generation, die so unvorsichtig war, ihren ideologiefreien Blick auf Geschichte und deren Hinterlassenschaften allzu tatenlustig zu artikulieren.

Die Abstimmung vom 19. Januar hat die Verhältnisse klargestellt. Das Votum bedeutet den Sieg der Provinz über die Metropole. Nach zwei Jahren international gefeierter „Volkspalast"-Aktivitäten bedeutet es den Sieg von Phantasielosigkeit und Zukunftsangst über Neugier, Kreativität und Engagement. Angesichts allgegenwärtiger Haushaltsnöte bedeutet es den Sieg dreister Ignoranz über jede politische Verantwortung. Und nicht zuletzt bedeutet es den Sieg verbohrter Ideologen über alle Versuche, endlich vorurteilslos voran zu kommen. Willkommen in der Republik der Greise.

Noch wenige Tage vor dem dritten Abriß-Beschluß hatte sogar die New York Times deutsche Politiker davor gewarnt, sich mit „einem Akt kulturellen Vatermordes um jede Möglichkeit der Wiedergutmachung zu bringen". Aber sie haben es partout gewollt. Zumindest die Anstifter der folgenreichen Entscheidung haben einen gebührenden Platz in der Stadtgeschichte verdient. Weil sie es Ulbricht – besser spät als gar nicht – heimzahlen wollten, ließen sich retroselige Wortführer wie Siedler, Vollmer, Thierse, Stolpe, Nooke, Diepgen, Wowereit, Stimmann, Junge-Reyer und etliche andere nicht davon abbringen, dem großen Übeltäter nachzueifern. Da allerdings ist auf Geschichte stets Verlaß: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Ein paar Namen aus dem Kollektiv der Demolierer kann sich doch jeder merken. Wann wurde Berlin das letzte Mal ein solcher Schaden zugefügt?

Wolfgang Kil

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 01 - 2006 © scheinschlag 2006