Ausgabe 01 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Kurzkultur

zynismus

Zynismus kann tödlich sein für jemanden, der keinen Spaß versteht, sagte Michael Haneke unter Tränen der Rührung, die in ein gefährliches Grimmen übergingen, zu Jim Jarmusch, als dieser im Kino am Ende von Dancer In The Dark in schallendes Gelächter ausbrach. Daß die Kurosawa-Mini-Retrospektive nicht das letzte Japan-Kino-Highlight dieses Winters bleibt, dafür sorgt Horrorfilm-, Hörspiel- und Punk-Musical-Regisseur Jörg Buttgereit vielleicht mit seiner Japan-Monster-Gala. Anlaß dazu ist die Veröffentlichung seines Filmführers Japan ­ Die Monsterinsel (im Martin Schmitz Verlag), darin er anhand von seltenen und zeitgenössischen Kinotrailern den japanischen Monsterfilm erklärt. Illustre Gäste wie Jenni Zylka, Wolfgang Müller und andere talken und lesen.

* „Japan-Monster-Gala", am 26. Februar ab 19.30 Uhr im HAU 1, Hallesches Ufer 32, Kreuzberg

dilettantismus

Nach zwei Jahren wird das wiederbelebte Blättchen für Heimatmusik Melodie & Rhythmus in die Archive versenkt. Nach scheinschlag-Informationen wurde am 25. Januar den Autoren verkündet, daß kein Geld zum Drucken vorhanden sei. 2004 gründete ein Kreis um den schlimmen Heuler Tino Eisbrenner (Jessica) das „Zentralorgan für Ostrock" (Tagesspiegel) neu. Die Redaktion war stolz darauf, über Dirk Zöllner, André Herzberg, IC-Falkenberg oder Dirk Michaelis zu berichten. Alle Texte waren von bemerkenswerter Anspruchslosigkeit. Ob die Puhdys die Titelrechte übernehmen, konnte bis Redaktionsschluß nicht geklärt werden.

purismus

Artic-Monkeys-Schema-Covern heißt das Motto beim Louisville-Label diesen Monat. Dort kommt am 17. Februar die sehr gute neue Single von Doc Schoko heraus. Mehr als nur Felt-Anklänge in „Ohnmacht", mehr als eine Sixties-Coverversion von den Monks (B-Track: „Sei Still")! Doc Schoko überzeugt als die Rächer-Naschversion aller Purismus-Beraubten und ist mit einer Anzahl angemessen authentischer Musiker derweil noch auf Deutschland-Tour. Ab Hannover wird daraus eine Monster-Tour, zusammen mit Fehlfarben ­ wie einst AC/DC mit Black Sabbath (am 17. März in der Berliner Volksbühne). Wir empfehlen Doc Schokos Album Große Straße uneingeschränkt als MUSS und verschenken als Untermauerung eine CD: Postkarte mit „Doc Schoko" bis 17. Februar an scheinschlag schicken; wer nur „Schoko" schreibt, kriegt (wirklich!) den aktuellen Schokoladen-Sampler ­ das Los entscheidet.

verismus

Die deutsche Literaturförderung in Form von Stipendienaufenthalten ist ein einziges Landverschickungsprogramm für Autoren. Was dabei herauskommt, wenn man sie nach Schöppingen, Wewelsfleth oder sonstwohin schickt, kann man dann regelmäßig sehen: Naturlyrik und ähnlicher Quatsch. Deshalb ist es uneingeschränkt zu begrüßen, wenn das Quartiersmanagement Soldiner Straße jetzt für 2006/07 das zehnmonatige Stipendium „Soldiner Kiezschreiber" auslobt. 1000 Euro und ein Büro im Soldiner Kiez winken dem Stipendiaten, der im Gegenzug vor Ort präsent sein und sich mit dem Kiez auseinandersetzen soll. Der drögen Berliner Literatur kann das nicht schaden. Und Gelegenheit, das Geld in angemessenen Kaschemmen zu versaufen, gibt es im Kiez auch genug. Die ausführlichen Teilnahmebedingungen finden sich auf www.foerderband.org, Bewerbungsschluß ist der 28. Februar.

* Förderband Kulturinitiative Berlin, Torstraße 150, 10119 Berlin

biographismus

Im geheimsten Off-Theater der Stadt wird Ingeborg Bachmanns Roman Malina von zwei wunderschönen Schauspielerinnen akrobatisch biographisiert. „Es müßte eine Versicherung geben, die nicht von dieser Welt ist." Gibt es aber nicht, nur schlechte Gefühle und fliegende Kommas. Die Produktion wurde immerhin von Amin El-Arousi beraten. Und das will was heißen.

* „Malina, Ivan und Ich", am 17. und 18. Februar um 20 Uhr im Eigenreich, Greifswalder Str. 212/213, Prenzlauer Berg, hinterm Magnetklub, dritter Hof

atavismus

Bei den zur Zeit herrschenden eisigen Temperaturen gibt es im Februar gleich dreimal die Möglichkeit, sich in der Kulturbrauerei bei Reggae und Ska warm zu tanzen. Mit Eskorzo und Costo Rico treten am 2. bzw. 5. Februar zwei Vertreter der jungen spanischen Musikszene auf. Am 20. Februar präsentiert Haydamaky aus der Ukraine ihr aktuelles Album Ukraine Calling. Alle Konzerte beginnen um 21 Uhr im Maschinenhaus und kosten an der Abendkasse 10 Euro. Eskorzo-Besucher zahlen beim Konzert von Costo Rico einen ermäßigten Eintritt von nur 7 Euro.

dezentralismus

In zwei Sprachen will die neue Zeitschrift Archive des Stadtviertelapparats/Archivos del Aparatobarrio an drei Orten präsent sein: in Berlin, Barcelona und Buenos Aires. Das Blatt, das – vorerst, wie es heißt – gratis verteilt wird, ist aus einem Projekt der argentinischen Künstler Sonia Abian und Carlos Piegari hervorgegangen, die den Alltag in der nordargentinischen Stadt Posadas untersucht und daraus sogenannte „Stadtviertelapparate" entwickelt haben, die in Ausstellungen gezeigt wurden. Die Zeitschrift, die sich über große Strecken wie ein Skript zu einem Film oder Theaterstück liest, bekommt man in guten Berliner Buchhandlungen oder gegen eine Gebühr von 3 Euro per Post. Bestellungen an: piraterai-international@gmx.net

realismus

Manfred Beier war Lehrer in Lichtenberg und ein manischer Dokumentarist seiner Umgebung (s. scheinschlag 1/2005). 40000 Fotos hat der Mann hinterlassen, Bilder aus dem Familienleben, aus der Schule, dem Ostberliner Alltag. Nach und nach soll die „Sammlung Beier", eine Art individuelle Geschichtsschreibung eines DDR-Bürgers, nun erschlossen werden. Eine kleine Auswahl aus dem immensen Konvolut ist zur Zeit im Sonntags-Club zu sehen.

* „Alltagsszenerien einer gefangenen Welt (DDR). Fotografien 1949-1978 aus der Sammlung Beier", noch bis zum 16. Februar im Sonntags-Club, Greifenhagener Str. 28, Prenzlauer Berg, täglich geöffnet von 17 bis 1 Uhr

dokumentarismus

So kann es gehen: 1968 wurde der Regiestudent Hartmut Bitomsky „wegen politischer Aktivitäten" von der Deutschen Film- und Fernsehakademie geworfen, seit Jahresbeginn ist er ihr Direktor. Diese Pointe in seiner Karriere hat sich der Dokumentarfilmer aber keineswegs mit Renegatentum erkauft. Bitomskys 40 Filme (u.a. Deutschlandbilder, Der VW Komplex) zählen zum Anspruchsvollsten, was der politische Film in der BRD hervorgebracht hat. „Ich glaube, ein Dokumentarfilm sollte nicht die Realität enthüllen", sagt Hartmut Bitomsky, „er muß die Realität artikulieren, gliedern." Das Kellerkino Arsenal begrüßt den neuen Nachbarn jetzt mit einer kleinen Retrospektive.

* „Welcome Hartmut Bitomsky", von 1. bis 8. Februar im Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2, Tiergarten

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 01 - 2006 © scheinschlag 2006