Ausgabe 01 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Man kann sich auch Recht machen!

Ein Leitfaden zum Alg II bietet praktische Sozialhilfeberatung

Was nützt das Recht, wenn man es nicht kennt? Gerade diejenigen, die der Hilfe des Staates besonders bedürfen, stehen oft ratlos vor einem Dickicht aus Paragraphen, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften. Häufig durch Armut von juristischer Vertretung ausgeschlossen, sind sie den Maßnahmen der Sozialbürokratie ziemlich hilflos ausgeliefert.

Wer den Leitfaden Alg II/Sozialhilfe von A-Z von Rainer Roth und Harald Thomé zur Hand nimmt, ist in einer besseren Situation. Auf 348 eng bedruckten Seiten finden Betroffene alles, was sie brauchen, um zu ihrem Recht zu kommen. Das Nachschlagewerk zerfällt in zwei Hauptteile: Im ersten werden von „Aids-Erkrankte" bis „Wohnungslose" nahezu alle Fälle, die Hilfsbedürftigkeit annehmen können, durchdekliniert. Wie ist das mit den Ein-Euro-Jobs: Muß man täglich eine Bewerbung abschicken? Hat man das Recht, einen PKW zu unterhalten? Im zweiten Teil geht es um die Möglichkeiten, sich gegen Entscheidungen der Behörde zur Wehr zu setzen: Darf man seine Kontoauszüge schwärzen? Was muß man beachten, wenn plötzlich ein Behördenmitarbeiter vor der Tür steht und Einlaß in die Wohnung begehrt? Wie legt man Widerspruch ein?

Das Buch ist vollgepackt mit nützlichen Informationen und Tips. Doch Roth/ Thomé breiten ihren Lesern die feinen Verästelungen des Sozialgesetzbuchs nicht nur sachlich-sachbezogen aus. Immer wieder lassen sie erkennen, welcher Seite ihre Sympathie gehört, aus welcher Motivation heraus sie den Leitfaden verfaßt haben. So geben ihnen z.B. Einzelheiten aus der Berechnung des Regelsatzes Anlaß zum Spott: „Die Großzügigkeit überschlägt sich geradezu bei den 1,83 Euro monatlich, die der Anschaffung von Computern einschließlich Software dienen sollen. Es wird Arbeitslosen sicherlich möglich sein, ihren Computerbedarf mit rund 22 Euro im Jahr ausreichend zu decken." Nach der detaillierten Untersuchung behördlicher Bedarfsberechnungen fordern sie: „Eckregelsatz von mindestens 500 Euro!"

Daß die Polemik zuweilen verschwörungstheoretische Züge annimmt, wenn etwa vom „Kapital und seinen Regierungen" die Rede ist, kann man verkraften. Sie wird aufgewogen durch eine klarsichtige Analyse der Arbeitsmarktreformen: „Während Regierungsvertreter und Behörden ein Konzept nach dem anderen ausprobieren, Arbeitslose wiedereinzugliedern, gliedern Unternehmen mehr und mehr Beschäftigte aus und zwingen sie, sich an die nächstgelegene Arbeitslosenbehörde zu wenden. Hartz IV will angebliche Faulenzer aktivieren, während das Wirtschaftssystem mit immer mehr Menschen nichts anfangen kann. Hier ist etwas faul, nicht bei den Arbeitslosen."

Den Aberwitz des gegenwärtigen Sy-stems bringen die Autoren in der Rubrik „Sozialhilfe mal anders" auf den Punkt, wo sie prägnant interessante Sparmöglichkeiten für Reiche zeigen und mit den Regelungen des Sozialgesetzbuches kontrastieren. Konto: „Der Druck, die Kontoauszüge vorzulegen, kommt einer Betriebsprüfung gleich. Bei armen Leuten finden häufiger ´Betriebsprüfungen' statt als bei Großbetrieben. Der Mensch, sofern er Kapital hat, hat eben ein Grundrecht auf den Schutz seiner Privatsphäre. Der Mensch, sofern er arbeitslos und arm ist, nicht." Vermögen: „Seit 1997 wird das Vermögen der Reichen nicht mehr besteuert. Millionären ist eine Vermögenssteuer nicht zumutbar. Vermögen wird im Sozialstaat eben nur bei den Armen ´weggesteuert'." Schenkungen: „Inhaber von Unternehmen können ohne Sorgen ihre Vermögen auf Frau und Kinder übertragen. Selbst im Konkursfall müssen die Schenkungen nicht rückgängig gemacht werden, auch wenn sie vorsätzlich erfolgten. Das gibt es nur bei Alg II/ Grundsicherung und Sozialhilfe. Der Sozialstaat fängt eben erst bei den Oberen an."

Gleichsam den Ritterschlag erhalten hat der Leitfaden durch eine Broschüre aus dem Ministerium für Wirtschaft und Arbeit. Unter dem Titel Vorrang für die Anständigen ­ gegen Mißbrauch, „Abzocke" und Selbstbedienung im Sozialstaat werden die Ausführungen des Leitfadens ­ streckenweise im Duktus früher SED-Propaganda ­ als „Empfehlungen, die sich leicht auch als Ideen zum Sozialbetrug verstehen lassen" diffamiert. Gegen diesen Ausfall haben sich die Autoren zu Recht zur Wehr gesetzt.

Es ist seit Jahren üblich, die Probleme des Arbeitsmarktes bei den Arbeitslosen abzuladen, als ob diese an ihrer Situation selbst schuld wären. Unter anderem in dieser Phantasielosigkeit äußert sich das Versagen der Politik. Die Daumenschrauben werden angezogen, bei den Betroffenen steigt der Druck. Auf diesem Boden gedeiht der Leitfaden, dessen Verdienst darin besteht, den Betroffenen ein Instrument an die Hand zu geben, mit dessen Hilfe sie nicht mehr als Bittsteller aufzutreten gezwungen sind (wie von vielen gewünscht), sondern als selbstbewußte Bürger, die von ihren Rechten Gebrauch machen.

Benno Kirsch

* Rainer Roth/Harald Thomé: Leitfaden Alg II/Sozialhilfe von A-Z. DVS, Frankfurt /M., 2005. 7,50 Euro. Bestellung e-post: agtuwas@web.de, fax: 069/15332633

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