Ausgabe 01 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Man braucht manchmal doch Sachen, die man nicht braucht

In der Swinemünder Straße ging Andreas Ulrich auf Reportage

Es gibt viele Bücher, die die Welt nicht braucht. Buchhandlungen sind voll davon, und Tatsache ist, daß sie – glaubt man zumindest den Bestsellerlisten – gut zu „gehen" scheinen: Meine Beziehung nervt, aber ich bin nicht daran schuld, sondern mein Mann, es ist nämlich genbedingt, er kann also nichts dafür von dem australischen Ehepaar Pease, Groschenhefte (à 12,90 Euro!) zu ARD-Vorabendserien, Thomas Manns Tagebücher in Berliner Mundart oder „nachdenkliche" Ergüsse eines ZDF-Nachrichtenchristen namens Peter Hahne.

Im Gegensatz dazu hat der Radiojournalist Andreas Ulrich einen Band verfaßt, den auch niemand wirklich braucht, der aber trotzdem ­ wenn man zu der Minderheit gehört, die irgendwas damit anfangen kann ­ ganz angenehm und interessant zu lesen ist. In Zwei Kilometer Deutschland: Fünfundzwanzig Lebenslinien kreuzen eine Straße (Verlag Das Neue Berlin) hat der Ex-DT64-Redakteur Bewohner der Swinemünder Straße über ihr Leben in Berlin und anderswo, vor und nach dem Mauerfall, befragt.

Warum eigentlich? „Da gäbe es doch jede Menge andere und berühmtere Straßen in Berlin, über die man berichten könnte", weiß Ulrich selber. Das ist wohl wahr, aber mit seinem Buch versucht er zu beleuchten ­ ohne die Sache wissenschaftlich anzugehen, Ulrich ist ja Journalist und kein Ethnologe ­ wie „normale" Berliner in einer „ganz normalen, durchschnittlichen Straße" fünfzehn Jahre nach der „Wende" leben, in West und Ost. Denn die Swinemünder befindet sich ca. zur Hälfte im Wedding, zur Hälfte im Alt-Bezirk Mitte. In einer Gesellschaft, in der die meisten noch irgendwie abhängig beschäftigt sind ­ im Volksmund: Sie gehen für jemand anderen arbeiten ­ hat es Andreas Ulrich geschafft, selbständige Handwerker, Ladenbesitzer, eine Kneipenwirtin, eine Hausbesitzerin, einen Hausmeister usw. ausfindig zu machen. Einfacher anzusprechen auf jeden Fall, man kriegt aber den Eindruck, daß die Straße ­ und damit Berlin ­ mehrheitlich aus Läden und Ich-AG-Vorläufern besteht. Um dem Autor gegenüber nicht ungerecht zu sein: Solche Geschichten sind wahrscheinlich abwechslungsreicher als die von denjenigen, die täglich für eine Firma ackern. Oder stehen vielleicht andere Lebensfacetten als die Arbeit bei Nicht-Selbständigen im Vordergrund, zumindest wenn es darum geht, Anekdoten zu erzählen?

Natürlich spielen „Ost-West-Geschichten" eine große Rolle. Der Arzt am Arkonaplatz zum Beispiel, der nach eigenen Angaben kaum Patienten aus dem Westen hat. Der Mann, der 2002 zum ersten Mal in den Osten geht. Oder sein älterer Bruder, der bei einem DDR-Besuch überraschend feststellte, daß es auch im Osten Berlins eine Wolliner Straße gibt, ohne es zu ahnen. Er war eigentlich nur einige hundert Meter von zu Hause weg.

Andreas Ulrich geht aber nicht nur die Swinemünder entlang. Seine Spurensuche bringt ihn bis nach England, und es wird auch in Israel recherchiert. Der Leser lernt einiges über ein jüdisches Paar, das in der Straße wohnte, und ihr Schicksal; von Schikanen, Zwangsarbeit, Tod in Auschwitz. Dieser Teil des Buches kommt zum großen Teil ohne direkte Gesprächsprotokolle aus.

Allerdings liest sich der Band häufig wie eine Transkription von Interviews. Man kann sich schon vorstellen, daß man mit dem Verfasser am Küchentisch sitzt und mitlauscht. Wer gerne längere Reportagen hört, wird hier sicherlich Freude am Lesen haben. Ich hatte aber den Eindruck, daß die Sammlung der „Lebenslinien" etwas zu schnell redigiert wurde. Das Kaufhaus des Westens kürzt man nämlich nicht „KDW" ab, sondern „KaDeWe", und auch wenn Andreas Ulrich beim RBB sein Geld verdient: Muß es sein, daß wir erfahren, daß Bewohner X Radio Eins hört oder bei Frau Y Antenne Brandenburg im Hintergrund läuft, wenn er sie besucht?

Kleinigkeiten beiseite, Berliner und Berlin-Erfahrene können mit dem Buch einige charmante Stunden verbringen. Die Welt bzw. die Weltbewohner brauchen nämlich so was doch. Vielleicht bei einem Pils in der „Linde", während man die Wäsche in der Ex-REWATEX bügeln läßt?

Matthew Heaney

* Andreas Ulrich: Zwei Kilometer Deutschland (mit Fotos von Frank Wegner). Verlag Das Neue Berlin 2005. 16,90 Euro

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 01 - 2006 © scheinschlag 2006