Ausgabe 10 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Das Neue ist des Ganzen Oberfläche

Ein Gespräch mit Diedrich Diederichsen zu 25 Jahren Spex

Foto: Jörg Gruneberg

Diedrich Diederichsen, geboren 1957, war in den achtziger Jahren Redakteur der Musikmagazine Sounds und Spex (1988 bis 2000 Spex-Mitherausgeber, zuletzt zusammen mit Tom Holert, Jutta Koether und Wolfgang Tillmans). Heute lehrt er in Stuttgart Visuelle Kommunikation und lebt in Berlin als Autor und Übersetzer. Von ihm sind unter anderem die Bücher Freiheit macht arm, Politische Korrekturen, Der lange Weg nach Mitte, 2000 Schallplatten, sowie soeben Musikzimmer erschienen.

Welche neue Musik hörst du im Moment?

Im Sinne von gerade erschienen? Ich habe eben die neue Kids 606 gehört, davor viel Soft Pink Truth ­ das ist natürlich nicht so neu ­, Japanerkram, neue Sachen von Otomo Yoshihide, alles mögliche. Was ich gerade viel höre, sind komische, ursprünglich nur als Partituren veröffentlichte Kompositionen von Ornette Coleman, die nicht auf Ornette-Coleman-Alben zu finden sind, nur auf so Violinisten-Alben, von denen ich nicht gewußt hab, daß es sie überhaupt gibt.

Dieses Jahr wird das „Magazin für Popkultur" Spex 25 Jahre alt. Du hast dich um die Jahrtausendwende als Herausgeber zurückgezogen. Würdest du uns eine kleine Bilanz der Zeitschrift geben? Einige Artikel stellten ja eine Art Zäsur dar. Der Text „The Kids are not alright" (Spex 11/92) etwa wurde stark wahrgenommen. In ihm attestierst du das Verschwinden von Dissidenz am Beispiel des aufkommenden Nazi-Rocks und forderst neue Konzepte.

Das war für mich eine Zäsur, aber nicht unbedingt für Spex. Es ging darum, daß die Grundannahme vieler Popmusik-Rezensionen, -Kritiken und -Texte, daß das Entgrenzende, das Wilde, das Befreiende ­ das, was zu jener Zeit auch im Reden über Rave eine große Rolle gespielt hat ­ nicht per se im politischen Sinne befreiend und emanzipatorisch zu verstehen ist. Dieser Grundgedanke „Energie freisetzen ist immer gut" und „Sau rauslassen ist immer gut" erweist sich dadurch als falsch, daß er sich auf Nazi-Rock auch anwenden ließe.

Um dieses grundsätzliche Bündnis zwischen Popmusik und den Kräften des im weitesten Sinne gesellschaftlichen Fortschritts ­ oder der Freisetzung von irgendetwas ­ aufrechterhalten zu können, muß man es neu qualifizieren. Den eben erwähnten Gedanken hat übrigens nie jemand so behauptet, aber es war die unausgesprochene Grundlage aller möglichen Artikel, zumal in Spex kurz vorher eine Titelgeschichte erschienen war, die „Rave-o-lution" hieß. Diese Konvergenz zwischen dem Politischen und dem Kulturellen, die da anklingt, war auch der Auslöser für diesen Text von mir. Es geht zuerst mal um diese Idee der Energie: Körperlichkeit und Erlebnisqualität. Das könnte man heute auch noch auf ganz andere Weise kritisieren. Ich wollte das erst mal runterkochen und sagen: Es ist nicht automatisch politisch richtig, wenn Leute sich körperlich wohlfühlen. Genau das war aber der Konsens von 95 Prozent aller Texte über Popmusik. Ich hatte zwar auch vorher meine Zweifel an Rockideologie, aber glaubte doch an die Magie des großen Ereignisses ­ auch nicht nur zu Unrecht. Jedenfalls begann mit dem erwähnten Text eine Revision von Urteilen oder Perspektiven. Für mich war das damals deshalb so wichtig, weil es nicht um offen diskutierte Dinge ging, sondern um implizite Grundlagen, das Selbstverständnis.

„Der Krieg der neuen Mitte" war eine Debatte, die 1999 stattfand (Spex 12/99)...

Diese Zäsur war eigentlich gar nicht mehr nötig, weil die alte Spex schon vorbei war. Da gab es politischen Dissens im Umfeld, aber den hatte es immer gegeben, und das war kein Problem im Sinne einer Zäsur. Zu der Zeit aber merkte man, daß das Projekt „Popmusik und Politik", das mal von vielen Leuten getragen worden war, aufgekündigt wurde. Und da waren sich eigentlich alle einig. Diese Krise ist eine strukturelle Krise, die in der späteren Spex auch noch existiert. Denn die sind ja auch nicht unpolitisch. Aber sie haben das gleiche Problem: Es gibt zur Zeit keine Lebenswelt, die diesen Zusammenhang so automatisch herstellt, wie das früher war.

Welche Veränderungen ergaben sich für dich persönlich im Zusammenhang mit dieser Debatte?

Ich war von allen Diskutanten derjenige, der gesagt hat: Das ist kein Einschnitt. Erstens habe ich nie einen derart einfachen Zusammenhang zwischen Interesse für Popmusik und Politisiertheit angenommen ­ sozusagen, wer die richtige Musik hört, hat auch die richtige Position. Zweitens war ich der Meinung, daß es ziemlich schwierig ist, überhaupt eine Position zu entwickeln, in dieser Kosovo-Situation, unter den Informationsbedingungen, die es damals gab. Weder der Automatismus: „Wenn's die NATO ist, dann wird's schon irgendwie Scheiße sein", noch die Gegenposition, die sagt: „Hier findet eigentlich ein Völkermord von Auschwitz-Dimension statt, da muß man unbedingt was machen" konnte ich vertreten. Und daß man immer und zu jeder Gelegenheit etwas vertreten muß ­ daß Politisierung heißt, immer etwas vertreten zu können, das wäre eher der Punkt gewesen, gegen den ich mich gewendet hätte. Auf der Ebene eine Meinung zu so etwas zu haben: Daß dies die Politisierung ist, die man meint, wenn man davon spricht, daß es Zusammenhänge zwischen Popmusik und politischen Positionen gibt, das hätte ich nie so stark beschrieben. Insofern war auch meine Enttäuschung nicht so groß.

Daß es diesen Einschnitt trotzdem gab, lag auch daran, daß es auf der Ebene, wie ich sie mir vorgestellt hatte, einen Zusammenhang zwischen einem politischen Interesse und einem gewissen kulturellen Interesse, einer kulturellen Orientierung auch nicht mehr gab, beziehungsweise diese nach und nach auseinanderfiel. Was sich vor allem daran zeigte, daß wir vier Herausgeber keine Leute gefunden haben, die uns a) allen vier gefallen hätten und b) Kompetenz und Interesse in diesen beiden Bereichen gehabt hätten. Wir fanden jede Menge Leute, die gute politische Köpfe waren. Die hatten aber nicht wirklich ein Interesse an Musik oder an den anderen subkulturellen Phänomenen. Das war dann eher so „ja, ja", das haben die so durchgewunken, sie waren nicht fanatisiert genug. Andere wieder haben diese politische Seite so mit durchgewunken. Dieses Problem kann man momentan nicht lösen. Man kann vielleicht einfach so weitermachen. Das ist auch irgendwie ganz okay, daß auf dieser Ebene ­ zumindest virtuell ­ noch so ein Traditionsstrang durchschimmert: daß man das irgendwann einmal richtig fand, daß diese beiden Dinge zusammengehören. So, wie man auch Begriffe wie Feuilleton einmal definiert hat, aufgrund bestimmter Vorstellungen, wie bürgerliche Kultur funktioniert. Das funktioniert auch schon lange nicht mehr.

Gab es nach dem Split etwas Wehmut? Was war positiv?

Es wäre ja nun Quatsch gewesen, künstlich etwas zusammenzuzwingen. Viele Leute empfanden es als enorme Befreiung, ganz einfach, weil es so eine Verpflichtung war, daß es diese Institution gab und man die halten mußte ­ eine Institution, die ein gewisses Gewicht hatte, auf der anderen Seite aber wahnsinnig viel Lebensenergie kostete. Die meisten meiner Freunde, die etwas mit Spex zu tun hatten, waren eher befreit. Wir hatten uns alle schon woandershin bewegt. Aber es hing ja auch von den Redakteuren, vom externen Umfeld usw. ab. Das ist kompliziert. Es gab eine Phase, 1998, wo wir noch sehr stark versucht haben, Spex in der Weise, wie wir es gemacht hatten, aufrechtzuerhalten. Der Jahrgang '98 ist noch ein sehr guter Jahrgang.

Dietmar Dath kam damals hinzu?

Nein, ich glaube, Dath kam 1999. Kurz vor Dath hat es diese Krise gegeben. An sich war die Idee: Das Blatt sollen diejenigen machen, die es machen wollen. Das war ein weiterer Grund, warum in diesem Jahr Dietmar Dath ziemlich viele sehr interessante Sachen probiert hat, die aber eher künstlerisch als blattmacherisch interessant waren. Die also keine Modelle generierten, wie man es jetzt machen könnte. Da war es logisch, daß man das Ding verkauft und die Leute, die sich zuvor schon einmal bereit gezeigt hatten, das so zu machen ­ eben auf eine andere Art, als wir das wollten, ­ es machen würden. So ist es auch gekommen. Irgendwie ist da das Wirkliche das Vernünftige, nicht? (lacht)

Ich fand Daths Stil schon auch erfrischend. Sein splatterartiger Horror überzog alles mit etwas, was dadurch ironischer als zuvor wurde. Tiefgang schon, aber auf eine andere Art.

Die Fansozialisation, die er hat, ist eben Science-Fiction und Metal. Er liefert ja in seinem neuen Buch die lebensgeschichtliche Seite und die ästhetische Theorie nach. Das liegt aber kulturell weiter weg vom klassischen Spex-Kern. Deswegen konnte er mit einer größeren Distanz agieren, kannte aber ­ auf der anderen Seite ­ die Psychologie des Fans, weil er das selbst ja schließlich auch gewesen war, nur von so einer etwas anderen Welt. Insofern stimmt das, war er eigentlich auch die richtige Besetzung ­ nur war eben alles schon so etwas auseinandergefieselt. Man konnte quasi noch so viele verrückte, exzentrische Positionen ertragen, solange so etwas wie ein Mainstream von Spex existierte. Es gab aber Ende der Neunziger niemanden mehr, der auf hohem Niveau für diesen Mainstream stand, der so verschiedene Dinge wie Belle & Sebastian, den Elektronik-Sektor, Hip-Hop und loungige Zitatkulturen zusammenhielt und das Ganze als ein politisiertes Lebensmodell vertrat. Dietmar hat das alles ­ wie du auch sagtest ­ ironisch, mit einer gewissen Solidarität dem Fanhaften gegenüber, aber nicht als ein Vertreter dieser Kulturen gemacht. Und die Vertreter dieser Fan-Kulturen, die konnten nicht über den Tellerrand gucken.

Ich erinnere mich an ein Heavy-Metal-Spex-Cover, das mich sehr ansprach.

Das war das mürrische Musik-Ding. In seinem neuen Buch beschreibt Dietmar seine Beziehung zu den Gegenständen dieses Heftes, wie es zu dem Heft kam und daß es die schlechtverkaufteste Spex-Nummer aller Zeiten war. Das stimmt aber nicht ganz, weil es eine gab, die noch schlechter verkauft war. Das war die Nummer mit Mutter auf dem Cover.

Interessant wäre zu wissen, wie es konzeptuell wieder möglich würde, in einem Medium über Pop und Politik zu sprechen und gleichzeitig Sachen zu vermitteln, die auch vermittelnswert sind.

Ich glaube, daß da jeder, der irgendwelche Einzelanstrengungen unternimmt, es interessant machen kann. Als Autor kann man schon verschiedene Welten aufeinander beziehen. Das Problem ist nur die Verankerung dieses Zusammenhangs in bestimmten Lebensformen als Selbstverständlichkeit. Diese alltägliche Selbstverständlichkeit kann man nicht wieder herbeischreiben. Das ist eine gesellschaftliche Entwicklung. Und wenn es sie irgendwo gibt, wenn sich Leute darum bemühen, dann ist das keine Selbstverständlichkeit, sondern dann liegt dem eine Anstrengung zugrunde, die möglicherweise auch sehr begrüßenswert ist, die sich aber nicht aus der Alltagssituation heraus ergibt. Das ist die Situation, mit der wir seit etwa zehn Jahren leben. Die kannst du aber nicht voluntaristisch, nur weil du's gerne hättest, durch Schreiben ändern. Die kannst du benennen; du kannst auch das Problem, das daraus resultiert, in deiner Arbeit thematisieren. Man kann nicht durch besseres Schreiben die Realität unmittelbar verändern.

Interview: Jörg Gruneberg

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