Ausgabe 10 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Berlin 1905/1906

1. Dezember bis 1. Februar

Auch diese Silvesternacht steht wie in den Jahren zuvor im Zeichen des Radaus. Etwa 140 Personen werden wegen nächtlichem ruhestörenden Lärm verhaftet. Bei 6 Grad Celsius weht ein scharfer Ostwind durch die Straßen. Wohl noch nie zuvor haben sich die besseren Schichten so stark an dem Trubel in der Friedrichstraße und Unter den Linden beteiligt. Deshalb ging es zuerst auch recht honett zu.

Als aber gegen 1 Uhr die elegante Welt aus den vornehmen Restaurants auf die Straße strömt, werden die traditionellen geschmacklosen Jagden auf die Zylinder eröffnet. Manche glänzende „Behauptung" wird da von „Unberufenen" schlagend „entkräftet", und es kommt zu mancher Festnahme. Gegen 5 Uhr muß die Schutzmannschaft mehrmals einschreiten, als ein Nachschub Lärmmacher von den äußeren Stadtteilen anrückt, um der Friedrichstraße eine Neujahrsvisite abzustatten.

Das neue Jahr hält in Berlin bei herrlichem Winterwetter Einzug, schon am frühen Morgen lockt der sonnige Tag trotz Frost Schaulustige ins Freie Unter die Linden. Punkt 8 Uhr werden auf dem Schloß die Standarten gehißt. Die Trompeter der Garde-Kürassiere blasen von der Galerie der Schloßkuppel die Choräle „Allein Gott in der Höh sei Ehr" und „Nun danket alle Gott!". Dem Trommelwirbel des großen Weckens folgen die Klänge des Kirchenliedes „O, daß ich tausend Zungen hätt" und dann geht es im Schlenderschritt zur Melodie von „Freut euch des Lebens" zum Portal hinaus Unter die Linden bis zum Brandenburger Tor und zurück.

Inzwischen fahren bereits die ersten Wagen der zum Gottesdienst und zur Cour befohlenen Würdenträger ins Schloß. Die Schloßgarde in Perücke und Zopf, die Galawachen der Gardedukorps in ihren roten Suprawesten, die Leibgarde der Kaiserin im Dreispitz rücken an, die Halloren in ihrer historischen Tracht tauchen auf, die Kommandierenden Generale finden sich ein. Stürmische Hochrufe des Publikums kündigen den Kaiser im Automobil an, der sich vom Neuen Palais nähert.

Zur selben Zeit trifft ein Spezial-Drahtbericht zum Aufstand in St. Petersburg ein (1. Januar, 11 Uhr 40 Min. norm.), wonach in Moskau neue furchtbare Kämpfe die kurze Waffenruhe abgelöst haben. Dort ist es gelungen, die Haupträdelsführer des Komitees der sozialrevolutionären Partei im Hause Atolmatschew festzunehmen. Der Hauptführer entzog sich jedoch der Verhaftung durch die Flucht über die Dächer. Unter den Arretierten befinden sich verschiedene Revolutionäre aus Genf, bei denen Dokumente und große Geldsummen gefunden und beschlagnahmt wurden. Auch der Stadtingenieur Winogradow, der vier Bomben bei sich hatte, befindet sich in Haft.

Schrecklich wütet jetzt der Kampf im alten Stadtteil Preßnja, der hauptsächlich aus Holzbauten besteht. Hier ertönt das Artilleriefeuer ununterbrochen, und die Zahl der Opfer ist enorm, 60 Häuser brennen. Das Militär rückt von drei Seiten gegen Preßnja vor. Die Aufständischen konzentrieren sich dort in den kleinen winkligen Straßen, die ihre Operationen begünstigen. Die Revolutionäre ergriffen den Brandmeister Juschin und verurteilten ihn zum Tod, das Urteil wurde an Ort und Stelle vollstreckt. In den Prochorowschen Fabriken sind über 10000 Revolutionäre der bewaffneten Kampfpartei konzentriert. Sie wurden aufgefordert, sich zu ergeben, weigerten sich aber. Jetzt traf die Fabriken ein fürchterliches Artilleriefeuer, vor dem alle in die Keller flüchteten.

Riesige Barrikaden sind bei der GorbatiBrücke errichtet, die durch Artillerie gesprengt werden sollen. Die Polizei fand im Petrowskipark eine große Bombenfabrik. Inzwischen begräbt Moskau seine Toten bei Tag und bei Nacht. Haufenweise liegen unerkannte Leichen auf den Höfen. Die Kirchhofverwaltungen machen unglaubliche Schwierigkeiten bei der Beerdigung, sie verlangen eine polizeiliche Bescheinigung über die Todesursache usw. Während des Straßenkampfes des Semenowschen Regiments gegen die Revolutionäre bei den Prochorowschen Fabriken fielen acht Soldaten und ein Feldwebel, Oberst von Etter wurde schwer verwundet.

In der innerhalb des Bannkreises von Moskau gelegenen Ortschaft Nowaja Derevina versuchten die Hausbesitzer, eine Bande Aufständischer zu vertreiben, die in eine Schänke geflüchtet war und von da aus auf die Einwohner schoß. Die Schänke wird eingeschlossen und von allen Seiten in Brand gesetzt.

Falko Hennig

* Der nächste Themenabend von Radio Hochsee zu Hubert Fichte und der Palette in Hamburg findet am 25. Januar, 20.30 Uhr im Kaffee Burger statt, Gast-Experte: Jan-Frederik Bandel, weiteres unter
www.Falko-Hennig.de

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