Ausgabe 10 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Überwachung im Hörsaal

Die Berliner Universitäten scheren sich wenig um Datenschutz

An den drei Berliner Universitäten schreitet die digitale Kontrolle der Studierenden voran. „Campus Management" und „Campuskarte" heißen die neuesten „Errungenschaften", mit denen Studienleistungen überwacht und Bewegungsprofile erstellt werden können. Kritiker weisen auf Datenschutzprobleme hin und fürchten eine tiefgreifende Umstrukturierung der Hochschulen. Einstweilen haben sie Atempause, denn es hapert bei der Umsetzung – noch.

An der Freien Universität ist der Start der neuen Software Campus Management von massiven Pannen begleitet. Zu Beginn des Semesters in Betrieb genommen, soll sie die Online-Anmeldung zu Lehrveranstaltungen und die Ablegung von Prüfungen überwachen. Während auf der offiziellen Homepage der FU weiter für die Vorteile einer „flexiblen und ortsunabhängigen Studienorganisation" ohne Schlangestehen und Papierkram geworben wird, verbrachten viele Studierende ihre freie Zeit in den Wartesälen der Prüfungsämter, um Fehlbuchungen korrigieren zu lassen. Von knapp 170 zur Onlinebuchung angekündigten Studiengängen waren zu Beginn des Anmeldezeitraums Anfang Oktober nicht einmal die Hälfte abrufbar. Die Unileitung zeigt sich angesichts dieser Pannen gelassen und hält weiter an dem neuen Überwachungsprogramm fest. Zwar laufe nicht alles optimal, insgesamt sei die Einführung jedoch als Erfolg zu werten.

Anders sieht das der AStA. Dieser erklärt die Umsetzung des über zwei Millionen Euro teuren Projekts für gescheitert und fordert dessen Abbruch. Zudem stellt er die rechtliche Grundlage in Frage. So basiere die dem Campus Management zugrundeliegende Fristenregelung auf einer Prüfungsordnung, die nicht vom Wissenschaftssenat abgesegnet und daher auch nicht rechtskräftig sei. Studierende, die sich nicht rechtzeitig angemeldet haben, dürften deswegen also nicht von Lehrveranstaltungen ausgeschlossen werden. Sollte dies dennoch geschehen, rät der AStA den Betroffenen, rechtliche Schritte einzulegen. Mit einzelnen Klagen ließen sich Präzedenzfälle schaffen, die die Fristenregelung für die gesamte Uni für ungültig erklären könnten.

Besonders diese Fristen sorgten bereits in der Entwicklungsphase des bundesweit einmaligen Pilotprojekts für Empörung unter den Studierenden. Neben der verbindlichen Anmeldung per Internet soll Campus Management die Einhaltung eines hochschulweit einheitlichen Abgabetermins für Hausarbeiten überwachen. Wird dieser überschritten, droht die automatische Vergabe von „Maluspunkten", die im Wiederholungsfall zur Exmatrikulation führen können.

Auch die Lehrenden bleiben von den Regeln nicht verschont. Sie müssen bereits wenige Wochen nach Abgabe der Arbeiten die endgültigen Noten in die zentrale Datenbank eingeben. Durch die engen Korrekturfristen kann davon ausgegangen werden, daß viele Dozenten statt der bisher üblichen Hausarbeiten lediglich Klausuren anbieten werden. Besonders bei den Geisteswissenschaften sei dies der Weg zu einem oberflächlichen Schmalspurstudium, meint Jenny Simon, Hochschulreferentin des AStA. Sie befürchtet eine Einschränkung der individuellen Studiengestaltung zugunsten einer den Markterfordernissen angepaßten, schnellen Ausbildung von Fachkräften. Neben den Studierenden stehen auch viele Mitarbeiter der neuen Software kritisch gegenüber. Sie befürchten eine stärkere Arbeitsbelastung durch die Umstellung auf das neue Programm. Bereits jetzt seien vermehrt Überstunden zu verzeichnen, berichtet Gabriele Sedatis, die Vorsitzende des Dahlemer Personalrats. Kurzfristig geschaffene Stellen seien dabei keine Hilfe, weil sie lediglich auf zwei Jahre befristet seien. Langfristig könne eher davon ausgegangen werden, daß die computergesteuerte Studienverwaltung zu einem Personalabbau führen werde.

So weit wie die FU ist die TU noch nicht. Gleichwohl wurde auch dort bereits einiger Staub aufgewirbelt, als der AStA im Oktober in einer Pressemitteilung die Leitung der Universitätsbibliothek bezichtigte, einen Beschluß des Kuratoriums vom vergangenen Jahr unterlaufen zu wollen. Damals hatte man das Projekt einer „multifunktionellen Campuskarte" mit berührungsfreiem Chip (RFID) auf unbestimmte Zeit wieder fallen lassen ­ aus Kostengründen, wie es hieß. Daß nun die Universitätsbibliothek (UB) eigenmächtig RFID-Chips in ihren Beständen implementiere und die Studierenden auffordere, ihre Campuskarten freizuschalten, verstoße gegen ihre Pflicht, das Kuratorium über Nachnutzungspläne zu informieren. In der so attackierten UB reagiert man verschnupft und versteht die Aufregung nicht. Es sei ein „babylonisches Sprachgewirr" entstanden, das zugegebenermaßen auch durch die irrtümliche Verwendung des Begriffs „Campuskarte" durch die UB entstanden sei. Alleiniges Ziel der UB sei es, etwas Ordnung in die Vielzahl der Ausweise zu bringen, mit denen Studierende von TU, UdK und externe Besucher die Bestände nutzten. Davon, daß die Nutzer ihren Chip freischalten sollten, könne nicht die Rede sein. Die Chips selbst seien für die UB uninteressant. Entscheidend für die Ausleihe sei allein der Barcode. Die Studierenden beruhigen solche Beteuerungen nicht. Zwar ist das Projekt Campuskarte einstweilen ad acta gelegt worden, aber was wird der Nachnutzungsplan bringen, der im Dezember vorgelegt werden soll? Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. „Wir beobachten die Lage", versichert Andreas Baumann, Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim AStA.

Auch die Studierendenvertretung an der Humboldt-Universität befindet sich im Wartestand. Man hat bemerkt, daß das Studentenwerk an den Mensen Nord und Süd die RFID-Chips einsetzt. Dabei ändert sich für die Hungrigen und die Damen an den Kassen wenig: Die einzelnen Essenskomponenten werden zunächst per Hand eingegeben. Dann hält der Kunde seine Karte in die Nähe des Lesegeräts, das die Summe abbucht. Ein ungefährlicher Vorgang, meint die Referentin für Hochschulpolitik des ReferentInnenreferats der HU, Katrin Lehmbecker. „Nicht schön" sei allerdings gewesen, daß das Studentenwerk die Technologie an den Gremien vorbei eingeführt habe. Aber die mit der Einführung verbundenen Preiserhöhungen fielen schwerer ins Gewicht.

Wenig gefährlich ­ das findet auch das Studentenwerk, aus dem der Hinweis verlautet, daß die Benutzer ja nicht identifiziert werden könnten. Die Idee hinter der Einführung der Chips sei gewesen, die störanfälligen Magnetkarten durch die berührungsfreien und also haltbareren Chips zu ersetzen. Man habe bei der Einführung eines neues Kassensystems auch daran gedacht, daß die Chips zukunftsweisende Perspektiven der Zusammenarbeit mit anderen Universitätsstellen böten. Wenn beispielsweise Bibliotheken Gebühren erheben wollten, müßten sie nicht eine eigene Karte einführen, weil die Chips ja teilbar seien. Und wenn die Idee mit der Campuskarte wieder aufgenommen würde, sei man vorbereitet.

Während das Studentenwerk munter voranprescht, hinkt die Studentenschaft hinterher. Marius Pöthe, studentisches Mitglied im Verwaltungsrat des Studentenwerks, kann sich einstweilen nur auf das Beobachten beschränken. Es habe etwa ein Jahr kein funktionierendes Aufsichtsgremium gegeben, die inzwischen getroffenen Entscheidungen müßten jetzt peu à peu aufgearbeitet werden. Im Moment bleibt ihm nur festzustellen, daß der Chip eingeführt worden ist, die Implikationen aber noch unklar sind.

Bei den Studierenden aller Universitäten geht die Befürchtung um, daß Campus Management und die RFID-Chips nur den Anfang einer tiefgreifenden Umstrukturierung der Hochschule darstellen. Besonders die zentrale Datenspeicherung macht ihnen Sorgen. Die so geschaffenen „gläsernen Studierenden" könnten in Zukunft Opfer weiterer repressiver Maßnahmen in Bezug auf Studiendauer und -intensität werden, weil eine minutengenaue Erfassung der Studientätigkeit möglich ist. Pöthe betont, daß mit der RFID-Chip-Campuskarte sämtliche studienbezogenen Aktivitäten der Studierenden wie beispielsweise die Anwesenheit bei der Vorlesung oder die Dauer der Internetnutzung nachvollzogen werden könnten. Der gleichen Meinung ist Katrin Lehmbecker. Durch die Technisierung der Verwaltungsabläufe werde es für Studierende, die keine Normbiographie aufweisen könnten, schwieriger, ihr Studium zu bewältigen. Die soziale Heterogenität, die die Studentenschaft gegenwärtig auszeichne, werde schwinden. Bereits jetzt zeichne sich eine rückläufige Zahl der Studierenden in Berlin ab, was auf die Einführung der Bachelor- und Master-Studiengänge zurückzuführen sei.

Überhaupt scheint der Chip lediglich ein Katalysator für andere Vorhaben zu sein. Pöthe weist darauf hin, daß die Implementierung von RFID-Chips an den Universitäten in Zusammenhang mit dem Bologna-Prozeß zu sehen ist. Die darin festgeschriebenen Richtlinien zur europäischen Angleichung der Hochschulen würden als Feigenblatt benutzt, um eine neoliberale Bildungspolitik durchzusetzen. Und wenn auch zu vermuten sei, daß zumindest die TU-Leitung ­ im Gegensatz zu FU und HU ­ keinen gesteigerten Wert auf die Einführung der Campuskarte lege, so bleibe die Landespolitik als unberechenbarer Faktor. Das ab nächstem Jahr geplante Studienkontenmodell mit „Credit-Points" werde sich mit RFID und Campus Management besser kontrollieren lassen. Eine mögliche Konsequenz: „Langfristig wird dieser Prozeß darauf hinauslaufen, aus der Uni eine Art Bildungsunternehmen zu machen", so Stefan Günther vom Arbeitskreis Hochschulpolitik des FU-AStA. Ein nächster Schritt dorthin könnte die Einführung von allgemeinen Studiengebühren sein. Für deren Verwaltung sollte zumindest die FU bestens gerüstet sein: „Zahlt ein Student seine Studiengebühren nicht rechtzeitig, kann ein Verzugssperrvermerk gesetzt werden", heißt es über die möglichen Zusatzfunktionen des Campus Management in einer Broschüre der Herstellerfirma SAP.

Früher war nicht alles besser, aber die Zukunft sieht durchaus nicht rosig aus. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die RFID-Chips und andere Überwachungstechnologien an den drei Universitäten eingeführt werden, allen gegenwärtigen Schwierigkeiten und Rückschlägen zum Trotz. Sie werden den Studierenden in vieler Hinsicht ihr Leben erleichtern, aber sie werden sie auch in ein bisher unvorstellbares Gehäuse der Hörigkeit einzwängen. Zum ersten werden die Bürgerrechte durch die digitale Überwachung subtil eingeschränkt werden. Zum zweiten wird sich studentisches Leben durch die neue Technologie massiv verändern. Und Bildung wird nicht mehr das sein, was sie einmal war, sie wird weiter verzweckt werden.

Philipp Mattern/Benno Kirsch

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 10 - 2005 © scheinschlag 2005/06