Ausgabe 10 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Weitermachen und Warten

Die Freien Radios in Berlin und Brandenburg arbeiten jetzt endlich zusammen

Im Frühsommer des Jahres, zum 8. Mai, tauchte in der Berliner Innenstadt das Remake eines alliierten Propagandaplakats auf. Es zeigte ein sowjetisches und ein britisches Flugzeug: zwei Piloten, die einander die Hände reichen und Fliegerbomben, die auf die Silhouette Berlins niedergehen. Ganz klein am Rand stand die Bitte, die Autoradios anzuschalten oder Kofferradios mitzubringen, und der Hinweis auf ein Veranstaltungsradio in Potsdam: UKW 100,0. Wie das?

Das „Aktionsbüro: "Das Begräbnis oder DIE HIMMLISCHEN VIER'" hatte Brechts Legende vom toten Soldaten ausgegraben und plante, zum 8. Mai ein alliiertes Flugzeug am Potsdamer Abendhimmel erscheinen und einen Bombenalarm auslösen zu lassen. Dumm nur, daß die Stadt Potsdam Anfang der neunziger Jahre aus Kostengründen die Sirenen abgebaut hatte. Was tun?

Radio ist eine preiswerte, gut verbreitete Technik zur Übertragung von Schall, und so kann die „Rundfunkapparatur" (Brecht) eben auch eine Sirene übertragen, um einen Bombenalarm zu simulieren. Gedacht, gesagt, getan. Und während nun das Aktionsbüro neben einer einmaligen Sirene auch Kampflieder, Aufbausongs und Gedichte des proletarischen Kulturerbes in den Äther brachte, blieb immer noch genügend Sendezeit für freie Gruppen, drei Wochen lang das erste Freie Radio in Potsdam zu betreiben. Im Juli, anläßlich des Potsdamer Abkommens, wiederholte sich das Szenario. Erneut gab es bis zu zwölf Stunden am Tag ein Freies Radio in Potsdam. Inzwischen hat sich die FRIP gebildet: die Freie Radio Initiative Potsdam, die ­ wie Radio Pax in der Stadt Brandenburg ­Freie Radios in Brandenburg fordert. Und in Berlin?

„Berlin hat noch nicht mal zwei Freie Radios", sagt Thomax Kaulmann. Er hat zusammen mit Jan Gerber und Til Singer die Freie-Radio-Software reboot.fm entwickelt und stellte Anfang November auf einem Treffen der Freien Radio-Initiativen Berlins und Brandenburgs das Archivsystem OMA (Open Meta Archive) vor. Das Treffen fand im „Ausland" in der Lychener Straße statt; drei Tage lang gab es Volksküche, Vorträge und viele vergnügliche Momente. Der Schwerpunkt lag auf Projektvorstellungen. Der Titel: „NOT ON AIR ­ feld und welt". Die präsentierten Ansätze reichten von der Entwicklung technischer Lösungen über Initiativen und redaktionelle Arbeitsgruppen bis zu internationalen, aus EU- oder Bundesmitteln geförderten Projekten. Gekommen waren Vertreter so verschiedener Gruppen wie c-base, FRIP, onda, matraca, Radio Pax, radioorganisms, polyphon, RADIO 1:1, radioterritories, radiotesla und freifunk.net.

freifunk.net hat in den letzten Jahren eine beeindruckend schlichte Hard- und Software-Lösung für nichtkommerzielle, drahtlose Funknetzwerke entwickelt; die c-base ein Internetradio, das unter der „creative commons license" läuft; das Künstlerduo Nora Schlecht, Brandenburg, stellte in einem Beitrag von Lubitzscher Heiterkeit die Erfindung des telepathischen Radios vor, und mit polyphon war ein Redaktions-Projekt zum Radiotreffen gekommen, das ­ wie auch radioorganisms, ein Projekt von ondomat und enemy combatant radio ­ an der Ausstellung Der freie Wille in der Arena beteiligt war. Onda stellte das deutschsprachige Lateinamerika-Info und sein Pendant, das spanischsprachige Europa-Info matraca, vor. radiotesla ist ein Programm des Tesla im Podewilschen Palais: Jeden Mittwoch werden ausgewählte Radioproduktionen präsentiert, die sich nicht auf Freie Radios beschränken. Schließlich präsentierten sich mit RADIO 1:1 und radioterritories zwei vom Hauptstadtkulturfonds bzw. von der EU geförderte Projekte. Sie beabsichtigen, mithilfe der reboot.fm-Software im kommenden Jahr Veranstaltungsfrequenzen für eine offene, dezentrale Programmarbeit zu nutzen.

Ein Berlin-Brandenburger Freies Radiotreffen ­ das hatte es in dieser Breite noch nie gegeben. Beide Seiten sind aufeinander angewiesen, sollen hier wie dort Freie Radios dauerhaft lizenziert werden. Der geltende Medienstaatsvertrag (MStV) beider Länder reicht nach Auffassung der zuständigen Behörde, der Medienanstalt Berlin-Brandenburg (MABB), nicht aus. Und während nun das Abgeordnetenhaus im Frühjahr eine Änderung des MStV beschlossen hatte, kam von der Staatskanzlei in Potsdam bislang nur ein dünnes „Nö". Damit galt es erst mal, Potsdamer Parlamentarier von den Chancen und Möglichkeiten Freier Radios in Brandenburg zu überzeugen. Eine Sisyphusarbeit. Denn trotz aller Bemühungen, die Änderung des MStV zu einem Tagesordnungspunkt der gemeinsamen Sitzung des Berliner Medien- und des Brandenburger Hauptausschusses am 23. November zu machen, blieb es an diesem Tag bei informellen Gesprächen. Für die Initiativen in Brandenburg, Potsdam und Berlin heißt es also: Weitermachen und Warten.

Anfang Dezember wird der Medienrat der MABB über die Vergabe von gleich drei ausgeschriebenen Frequenzen befinden. Auf die 104,1 hat sich auch Twenfm beworben. Das DJ-Radio hatte fast ein Jahr lang, bis zum Juli 2005, auf UKW 104,1 gesendet, wurde dann aber vom Monopolisten T-Systems abgeschaltet. Monopolist? Nicht mehr ganz. Zwar werden nach wie vor fast alle Sender zentral von T-Systems gesteuert, doch ist seit kurzem auch das Betreiben eigener Sendeanlagen möglich. Das Monopol praktisch gebrochen zu haben, ist das Verdienst des deutsch-polnischen Künstlerradios Radio Copernicus, das als erster Sender überhaupt einen Antrag bei der Bundesnetzagentur gestellt hat. Im Dezember sendet Radio Copernicus ganztägig aus Wroc[aw auf der Berliner UKW 95,2.

Johannes Wilms

www.ausland-berlin.de

www.c-base.org

www.creativecommons.org

www.der-freie-wille.de

www.enemycombatatantradio.net

www.freifunk.net

www.himmlischevier.de

www.npla.de/onda

www.ondomat.net

www.radio-copernicus.org

www.radioeinszueins.de

www.radiokampagne-berlin.de

www.reboot.fm

www.tesla-berlin.de

www.twenfm.org

freiesradiopotsdam@gmx.de

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