Ausgabe 10- 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Gewalt!

Nein, auf Berlin hat die Randale dann doch nicht übergegriffen. Das war wohl eine Zeitungsente. Daß im Friedrichshain in einer Nacht mal zwei, drei Autos brennen, das ist eher der Normal- als der Ausnahmezustand. Aber hätte es nicht passieren können? Die Frage beschäftigte die Medien, die staatstragenden und den Boulevard. Sind türkische Migrantenkids friedlicher als nordafrikanische? Angst macht sich breit. Die Integrationsbeauftragten nutzen die Gunst der Stunde, um darauf hinzuweisen, daß das mit der Integration nicht so gut laufe. Die Bildungsexperten nutzen die Gunst der Stunde, um darauf hinzuweisen, daß mit der Bildung so ziemlich alles schieflaufe bei den Migranten. So weit, so bekannt. Ein Soziologe ging im Deutschlandfunk mit der naiven Einschätzung hausieren, in Kreuzberg könne so etwas gar nicht passieren, denn die Einwanderer liebten doch ihren Kiez, den würden sie doch niemals kaputt machen! Aber wird Hamburg-Harburg auch so geliebt oder Bochum-Stahlhausen? Und die Einwanderer in den Banlieues, die sind dann wohl plötzlich in Haß auf ihre eigenen Autos entbrannt oder was? Und was war noch mal in Kreuzberg am 1. Mai?

Die Krawalle in Frankreich waren ein voller Erfolg. Zwar kann man wohl nicht behaupten, daß sie planmäßig herbeigeführt worden wären, aber es genügt ja, wenn Menschen dorthin Öl bringen, wo bereits Feuer ist. Die Brandstifter und Randalierer haben erreicht, was alle Integrationsbeauftragten, Streetworker und engagierten Politiker zusammen niemals erreicht hätten: wochenlang Schlagzeilen, Hintergrundberichte, politische Debatten ­ das, was zählt in einer „Mediendemokratie". Und vielleicht schickt Chirac ja wirklich ein bißchen Geld. Die sogenannte Mehrheitsbevölkerung hat es mit der Angst zu tun bekommen, hat zumindest für einen Moment begriffen, daß es nicht getan ist mit ein paar Almosen für die Verlierer in den Vorstädten. Niemals aber wäre es dahin gekommen, hätten die wütenden Jugendlichen es bei friedlichen Mitteln des Protests bewenden lassen.

Auch die wohlmeinenderen Kommentare krankten alle an einem Paradox: Einig war man sich, daß mit den Ereignissen in Frankreich wichtige, ja überfällige Diskussionen endlich angestoßen worden seien. Einig war man sich aber auch, daß die Mittel, das heißt: Gewalt gegen Sachen unbedingt zu verurteilen seien. Bloß, wie hätte es anders gehen sollen? Damit wir uns nicht mißverstehen: Dies ist kein Aufruf zur Gewalt. Es gilt aber festzustellen, daß es in unseren vorbildlichen, westlichen Demokratien so weit gekommen ist, daß die Marginalisierten sich anders kein Gehör verschaffen können. Das ist jetzt einigen gedämmert, das beunruhigt.

Nun, es sind ja nicht irgendwelche Marginalisierten, die sich auf diese Weise lautstark Gehör verschaffen. Die Senioren, denen man immer mehr von ihrer Rente wegnimmt, sind es nicht. Es sind auch nicht die muslimischen Frauen, die in Zwangsehen leben müssen. Schon sind Psychologen zur Stelle, die die Eskalation nicht gesellschaftlich erklären wollen, sondern auf die Hormone zurückführen: Die Gewalt ist jung und männlich. Und sicherlich können junge Männer leichter Autos umstürzen als 90jährige. Aber man täusche sich nicht! Die Zustände in den Altersheimen sind teilweise nicht weniger unhaltbar als in den Stadtrandsiedlungen. Alexander Kluge berichtet in seiner Chronik der Gefühle von Gewaltexzessen im venezianischen Altersheim San Lorenzo im Sommer 1969: Die Alten töteten den Anstaltsleiter, nahmen das Pflege- und Küchenpersonal in Geiselhaft und ernannten sich zu Päpsten und Kardinälen. Zwei Küchenhilfen wurden brutal ermordet, die Polizei mußte mit Gasgranaten vorgehen.

Peter Stirner

Foto: Knut Hildebrandt

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