Ausgabe 9 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

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Hopfeninseln im Neubaugebiet

Nordwest: Fröhliche Zecher und halluzinogene Schnäpse im Märkischen Viertel

Von Mitte aus benötigt man keine 20 Minuten zum U8-Endpunkt Wittenau, hat also nicht unbedingt das Gefühl, sich sonstwie weit in die Peripherie hinaus zu begeben, auf dem Weg ins Märkische Viertel. Die U-Bahn-Anbindung allerdings ließ, als die Hochhäuser 1974 fertiggestellt waren, noch 20 Jahre auf sich warten. Das Märkische Viertel hatte damals überhaupt eine schlechte Presse: Bemängelt wurde, von Architekturkritik einmal abgesehen, vor allem das Fehlen diverser „Wohnfolgeeinrichtungen". Zu diesen Einrichtungen muß man sicherlich auch Kneipen zählen. Was also entwickelt sich als Äquivalent der klassischen Eckkneipe in einer aus dem Boden gestampften Wohnstadt?

Inmitten der Hochhäuser bietet die HOPFENINSEL am Eichhorster Weg einen Anhaltspunkt. Das gut besuchte MSV NORMANNIA 08 VEREINSHEIM ganz in der Nähe wartet zwar mit dem Charme einer Bierhalle auf und hat drei Sorten vom Faß im Angebot ­ legt aber nahe, daß die welchem Sport auch immer anhängenden Gäste unter sich bleiben wollen. In der eher kühlen HOPFENINSEL, die sich mit Lidl und einer Fahrschule einen Flachbau teilt, hängen an einem Dienstagabend zehn Gäste, Alter schätzungsweise zwischen 35 und 60, an der raumgreifenden, aus Backsteinen gemauerten Theke. Weihnachtskugeln und Silvester- bzw. Karnevalsdekoration mischen sich Mitte Januar; am Monatsende ist ein Dart-Turnier angekündigt. Auch sonst ist die HOPFENINSEL eine gediegene, unspektakuläre Kneipe, die den Durchschnittsgeschmack anspricht, und wo verläßlich immer dieselben Leute aus der Nachbarschaft herumhängen. Auf Laufkundschaft kann die in der Wohnstraße gelegene Kneipe kaum zählen.

Foto: Willi Ebentreich in scheinschlag 11/92

Exzesse scheinen sich eher am MAXIMILIAN SPEZIALITÄTEN EUROPA-Imbiß an der Ecke Eichhorster Weg/Wilhelmsruher Damm abzuspielen, wo die professionellen Trinker der Gegend auch bei Minusgraden an Stehtischen ausharren und Hochprozentiges zu sich nehmen. Schon von weitem dringt das gegrölte Bekenntnis eines Schnapstrinkers an mein Ohr: „Ich hab schon Halluzinationen von dem Bismarck!" Der Mann irrt vermutlich; aus medizinischer Sicht verhält es sich doch eher so, daß seine Halluzinationen auf einen noch zu geringen Alkoholpegel hinweisen. Andere Trinker holen sich ihren Sixpack im DILAN IMBISS in der Finsterwalder Straße. Vater und Sohn sind offenbar gerade mit der Abwicklung der türkischen Imbißbude beschäftigt, die „aus privaten Gründen" zum Verkauf steht; das Speiseangebot hat sich fast auf Null reduziert, aus türkischer Pizza und Salatresten wird eine Art Döner simuliert.

Die hochaufragenden Wohnhäuser kontrastieren in Wittenau seltsam mit kleinen und kleinsten Einfamilienhäusern. Zwischen diesen Häuschen und also noch vor den Toren des Märkischen Viertels lockt an der Ecke Finsterwalder/Steinkirchener Straße die Kneipe ZUM FRÖHLICHEN ZECHER. Anders als in der HOPFENINSEL ist das Ambiente eher rustikal, man fühlt sich hier wie in einer richtigen Vorstadtkneipe. Die Wirtin widmet ihre ganze Aufmerksamkeit einem einzigen Gast, als ich das Lokal betrete; im Radio wird gemeldet, daß ein Mann, der von einer Straßenbahn erfaßt wurde, nach neuesten Erkenntnissen doch alkoholisiert gewesen sei. Der ganze Stolz der Wirtin, ihrem Monolog zu entnehmen, ist die Tatsache, daß ihre Töchter nun alle versorgt sind, Häuschen am Nordgraben usw.; und vom Saufen hat sie die Kinder immer ganz vehement und erfolgreich abzuhalten versucht.

Als Mittelpunkt des Märkischen Viertels soll das Märkische Zentrum dienen. Der große zugige Platz davor ist flankiert von McDonald's, Fitneßstudios und dem üblichen Krampf. Im Souterrain des gegenüber gelegenen Hauses aber erreicht man einen Ort von solchem Grauen, daß es einem schier die Sprache verschlägt: den AMERICAN WESTERN SALOON (AWS). Nun war Reinickendorf ja nie amerikanisch besetzt, die großzügigen, mit Country-Kitsch dekorierten Räumlichkeiten, in denen neben Live-Musik und Tanz, selbst an Wochentagen, auch Burger und „Pizza Hawaii" geboten werden, existieren aber auch erst seit wenigen Jahren. Western-Outfit ist glücklicherweise keine Pflicht, auch so schon sind die ästhetischen Beleidigungen, die der AWS für alle Sinne bereithält, nur schwer zu verkraften. „Our beers are as cold as your exwife" lautet das markige Motto des Hauses; wenigstens kann man den ungenießbaren amerikanischen Bieren ausweichen und im AWS auch Krombacher trinken. „Hier ist der Traum von der großen Freiheit noch lebendig", verkündete ein offensichtlich geistesgestörter Schreiber in der B.Z. Alles nur ein böser Traum? Und ich habe doch gar keinen Bismarck getrunken!

Schließlich noch einmal Bismarck in der FASS 1 SCHÄNKE an der Ecke Oranienburger Straße/Eichborndamm: Die kleine, geschmacklos dekorierte Kneipe thront über einer Commerzbank-Filiale, Panoramablick über die Kreuzung. Auf einem Lesepult liegt der zweite Band der Denkwürdigkeiten des Reichskanzlers aufgeschlagen: „König Wilhelm im Granatenfeuer". Was soll das nun? „Komm rin! Hier is et richtig!" lockt die SCHÄNKE Kundschaft herauf. Ich denke, eher doch nicht.

Florian Neuner

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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