Ausgabe 9 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Nicht selbstorganisiert, sondern freiwillig

Die Ratten proben im 13. Jahr ihrer Karriere Hauptmanns Weber

Nicht nur der scheinschlag feiert Jubiläum, auch die „Ratten 07": Das Obdachlosentheater existiert seit 1992, also auch schon 13 Jahre, und probt mit den Webern seine 34. Produktion ein.

Auf dem RAW-Gelände, im Ambulatorium, haben die Ratten seit 2004 ihren neuen Stützpunkt errichtet: Bis 2000 bei der Volksbühne, zogen sie anschließend ins Zentrum Kreuzberg und später nach Friedrichshain. Heute Nachmittag ist Kostümprobe, in der dunklen Halle sind zwei pensionierte Kostümbildnerinnen und der Regisseur Veith Lowack damit beschäftigt, den zwölf Darstellern Kleider für die Inszenierung von Hauptmanns Webern anzupassen. Die Volksbühne, sonst immer willig, die Ratten zu unterstützen, konnte ihren Fundus diesmal nicht für sie öffnen. Die Schaubühne aber hat's getan, und Helga und Lore, die Kostümbildnerinnen, haben auch was gezaubert, sprich: genäht.

Während drinnen die ersten ihre historisch wirkenden Kleider anprobieren, sitzen die meisten Ratten noch bei Bier, Tee und Zigaretten an einem Holztisch im Hof des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks. Ich setze mich dazu. Um was geht es bei den Webern? ­ Uli, die eine der Weberinnen spielt, faßt es so zusammen: „Es geht um das Leiden der untersten, untersten Schicht, die nur arbeitet und auch noch verhungert. Den Fabrikanten geht's auf deren Kosten gut, und die Weber werden betrogen, müssen bitten und betteln, um überhaupt was zu kriegen. Einige von ihnen kommen dann drauf, daß man nicht alles hinnehmen muß, sondern sich auch zusammentun und sich gemeinsam wehren kann. Der alte Hilse, der sich nicht mit den Aufständischen solidarisieren will, wird von der Polizei erschossen. Daß der Unbeteiligte stirbt, bestätigt im Grunde genommen nur die jahrhundertealte Weisheit, daß Nichtstun und Weggucken genauso schlimm ist wie Mitmachen."

Uli ist seit zehn Jahren bei den Ratten und eher zufällig zu der Theatergruppe gekommen: „Ich saß in meiner Arbeitslosenstammkneipe", erzählt sie, „und an einem Abend fing ein Typ, der auch öfter da war, nach ein paar Bier an rumzustänkern: Ihr Asozialen, ihr müßt nicht rumhängen, ihr seid nicht zum Nichtstun verdammt. Ich tu was, ich spiele Theater! Aber ihr, ihr schafft gar nichts! – ,Halt doch das Maul, du Arschloch', hab ich zu ihm gesagt. ,Sag mir, wo das ist, und ich komm mit.' Und am nächsten Tag bin ich mit ihm zur Probe gegangen, zu Lumpazi Vagabundus."

Dieter hingegen ist vor fünf Jahren durch das Regisseurinnenduo C&A zu den Ratten gestoßen: Die beiden Frauen wollten die Ratten aufmischen und sprachen Obdachlose in Wärmestuben und Essensausgaben an. Das kam bei den „alten" Ratten nicht gut an: „Man kann so eine Gruppe nicht programmatisch verändern, das ist eine gewachsene Struktur", meint Heinz, ein weißbärtiger Mann, der fast seit Beginn dabei ist. Wichtig für diese Struktur war immer Gunter Seidler. Der Regisseur leitete die außergewöhnliche Theatergruppe zwölf Jahre lang und kümmert sich heute noch um den Verein „Freunde der Ratten". Sind die Ratten eine Familie? ­ „Wie bei einer Familie ist es oft schwierig, aber immer hilfreich, sie zu haben." Das ist sicher ein Grund, warum die Ratten an ein Ende ihrer Spielzeit noch lange nicht denken. Die fast paradiesischen Bedingungen an der Volksbühne ­ 20 DM Tagegeld, 50 DM pro Aufführung, dazu zwei fest eingeplante Inszenierungen pro Jahr ­ sind leider Geschichte, heute geht das beantragte Geld vom Kulturamt an die „Profis" von Regie, Bühne, Kostüm und für die Raummiete drauf. Aber die Ratten finden das nicht so schlimm: Die künstlerische Leitung muß von Profis übernommen werden, das ist die mehrheitliche Meinung. Kleinere Sachen haben sie auch selbst inszeniert, z.B. die Haste mal 'ne Mark-Show oder Rebell und das Böse unter der Regie von Sven „Lenin" Hoffmann.

Die Entscheidungen über Regisseure und Stücke aber trifft die Gruppe gemeinsam: Den ersten Regisseur, der sich für die Weber vorgestellt hat, haben sie rausgeschmissen. Grund: „Der paßte nicht zu den Ratten. Wir haben ja inzwischen auch ein Prestige, einen Namen. Da können wir jetzt nicht plötzlich Die Weber auf'm Golfplatz spielen." Sind die Ratten denn eine selbstorganisierte Theatergruppe? ­ „Nee, wir sind eher 'ne freiwillige Theatergruppe", witzelt Dieter und lacht. Selbstvertrauen haben sie alle gewonnen durch die Theaterarbeit, deswegen machen sie sie letztendlich, auch ohne Geld. Auf der Bühne stehen ­ ist wunderbar. Und die Premiere, meint Uli, sei wie eine Geburt: „Da hat man alle Schmerzen, allen Streit vergessen." Auf Leute, die sich ein bißchen Authentizität auf die Bühne holen wollen und die Ratten dann mit einem feuchten Händedruck verabschieden, pfeifen sie. Auf arrogante Profi-Schauspieler und -Regisseure ebenso. Mit dem derzeitigen Regisseur Veith Lowack kommen sie gut zurecht: „Allerdings", ruft Frederic ihm zu, „mußt du noch einen ausgeben. Ratteneinstand!"

Nach und nach werden alle in die Halle beordert, müssen alle ihre Kostüme wenigstens einmal anprobieren, der Schmied, die Weberin, der Bäcker und der Förster... Viel Verkleidung braucht es nicht, um aus Uli, Heinz, Dieter und ihren Kollegen Figuren zu machen. „Ick bin keen Schauspieler, bin Darsteller!" ruft Tim, der mit einem Kittel und einer altertümlichen Mütze auf der Bühne steht. In jeder Figur, die die Ratten darstellen, ist so viel Persönlichkeit drin, wie sie bei Profis wohl kaum zu ertragen wäre.

Der Regisseur Veith Lowack sieht in Gerhart Hauptmanns Stück, das den schlesischen Weberaufstand von 1844 zum Thema hat, eine Menge Parallelen zu heute: Ihm geht es um die kontinuierliche Geschichte von Lohnkürzungen und Arbeitskämpfen, um Solidarität und die Gründe ihres Scheiterns. Weniger Naturalismus also, mehr Sozialkritik. Dafür orientiert er sich stark an der Geschichte von Hauptmann, will aber vor allem „Gleichnisse finden", die heute noch gültig sind: Hartz IV und die Lohndrückerei nennt er als arbeitspolitisches Beispiel, Otto Schilys Vorschlag vom Einsatz der Bundeswehr im Inland als innenpolitisches. Hauptmanns Stück, das im Original auf schlesisch geschrieben und heute kaum noch verständlich ist, wird von Lowack bearbeitet. „Da bin ich kräftig am Schreiben", berichtet er. Und da es an allen Ecken und Enden fehlt, bleibt am Regisseur auch sonst einige Arbeit hängen, sogar als Schauspieler muß er hin und wieder einspringen. „Für die Kostüme", sagt Lowack am Ende der Probe zu seiner Truppe, „ist aber jeder selbst verantwortlich."

Konstanze Schmitt

* Die Premiere von „Die Weber" nach Gerhart Hauptmann findet am 18. November um 20 Uhr (Einlaß 19 Uhr) im Ambulatorium des RAW, Revaler Straße 99, Friedrichshain, statt. Weitere Vorstellungen am 19., 20. und 30. November, am 7., 9., 16., 17. und 18. Dezember und am 13., 14., 20. und 21. Januar, jeweils 20 Uhr

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