Ausgabe 8 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Die Seele im Darm, das Tabu im Kopf

Der komplizierte Umgang mit einer simplen Körperfunktion

Wenn im nächsten Jahr wieder mal auf allen Kanälen ein Mozart-Jahr ausgerufen werden wird, dann wird man auch seine Briefe wieder hervorkramen – eine Korrespondenz, in welcher der Komponist nicht nur mit großem Sprachwitz brilliert, sondern auch häufig und geradezu zwanghaft mit Vokabular aus der Fäkalsphäre um sich wirft. So schreibt er etwa 1777 aus Mannheim an seine Cousine: „Verzeihen Sie mir meine schlechte Schrift, die Feder ist schon alt, ich scheiße schon wirklich bald 22 Jahr aus dem nämlichen Loch, und ist doch noch nicht verrissen! – und hab schon so oft geschissen – – und mit den Zähnen den Dreck abbissen." (Sicherlich könnte man sich dabei aufhalten, wie hier psychoanalytisch-ahnungsvoll die Tintenemanation mit den Exkrementen kurzgeschlossen wird ...) Einen anderen Brief aus demselben Jahr beginnt W.A. Mozart so: „Bevor ich Ihnen schreibe, muß ich aufs Häusel gehen – – – jetzt ist's vorbei! ach!" Er scheint das von seiner Mutter zu haben, über die der Mozart-Biograph Wolfgang Hildesheimer schreibt: „Die beiden müssen viel von Verdauungsfunktionen gesprochen haben, hier, und vielleicht nur hier, hatten sie ein variables gemeinsames Thema." So berichtet Mozart seiner Mutter folgendermaßen von einer Reise: „Wir sind jetzt über 8 Tage weg. Und haben schon geschissen vielen Dreck."

Auch wenn Hildesheimer darauf hinweist, daß eine derart deftige Diktion unter den Salzburger Bürgern damals nichts Außergewöhnliches war, kann es nicht verwundern, daß die skatologischen Witzeleien des Komponisten von der Mozart-Biographik lange peinlich verschwiegen wurden. Überhaupt könnte man den Eindruck haben, die Ausscheidungsvorgänge seien noch nicht derart schambesetzt und tabuisiert gewesen zu Zeiten, als es noch keine Hightech-Toiletten gab, ja nicht mal eine Kanalisation. Damit befinden wir uns aber bereits mitten in einem Gelehrtenstreit. Hatte doch Norbert Elias die These vertreten, im Mittelalter habe es noch keine strikte Trennung zwischen privaten und öffentlichen Räumen gegeben, habe deshalb auch die Darmentleerung noch nicht hinter verschlossenen Türen stattgefunden – eine These, der der Ethnologe Hans Peter Duerr mit seinem mehrbändigen Mythos vom Zivilisationsprozeß widerspricht. „Dieser Mythos besagt", so Duerr, „daß die derzeitige Domestikation unserer tierischen Natur das Ergebnis eines langwierigen Prozesses sei, der im westlichen Europa gegen Ende des Mittelalters und bei den ,Primitiven' erst in allerjüngster Zeit begonnen habe."

Kleine Kinder jedenfalls kennen noch keine Scham, Blase wie Darm voreinander und vor Erwachsenen zu entleeren. Aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, ein Alter, ab dem von ihnen erwartet wird, daß sie ihre Notdurft allein hinter der verschlossenen Klotür verrichten. Hier setzt die Kultur ein. (Ein Freud-Exkurs drängt sich natürlich geradezu auf an dieser Stelle ...) Die kulturellen Konventionen im Umgang mit den menschlichen Ausscheidungsvorgängen sind einigermaßen beliebig, und keineswegs lockert sich die Schamhaftigkeit proportional zur „Ursprünglichkeit" einer Kultur.

Duerr hat fleißig Material zusammengetragen, um das zu untermauern. Bei den Chagga in Afrika etwa kursiert das Märchen, den männlichen Heranwachsenden werde in einem Initiationsritus nach der Penetration durch Ältere der After zugestöpselt und Männer würden deshalb auch keinen Kot ausscheiden. Sie vergraben ihre Exkremente und versuchen ihre Notdurft ­ in diesem Punkt um ein vielfaches schamhafter als die westliche Zivilisation ­ zu verschleiern. In Neuguinea gibt es sogar Stämme, bei denen ernsthaft den Suizid erwägt, wer beim Urinieren oder Defäkieren überrascht wird. „Freilich kommt dies kaum vor", schreibt Duerr, „weil auch die Männer sich beim Urinieren niederhocken, damit das hohe Gras sie vollkommen verbirgt. Sieht ein Mann eine sich erleichternde Frau, so ist es üblich, daß er zu ihr hingeht und fragt, ob sie mit ihm schläft. Für gewöhnlich willigt sie ein, denn nach dem Koitus ist die Scham vorbei, weil sie ja miteinander intim gewesen sind." Andere Konventionen hingegen im Europa des 16. Jahrhunderts: 1534 wurde in Basel ein Metzgergeselle sogar verhaftet, weil er sich an Fastnacht zum Pissen „wie ein wip" hingehockt hatte.

Im Internet findet man wohl zu allen Themen Diskussionsforen. Eine Netzdebatte unter Jugendlichen, ob sie sich denn beim Kacken zusehen lassen würden, mag den heutigen Stand in Sachen Scham in unseren Breiten beleuchten. Da schreibt ein junger Mann über eine für ihn anscheinend geradezu traumatische Erfahrung: „In einem riesigen Zeltlager gab es nur drei Waschcontainer: einen für Jungen und zwei für Mädchen. Mein Stuhlgang wollte aber keine Zeit verlieren und schnellstens raus. Meine Ex weigerte sich rauszugehen, und so kackte ich dann in diesem 3 mal 5m-Container in front of my girlfriend. Bah, mir war selten etwas unangenehmer!" Eine verbreitete, aber sicher nicht selbstverständliche Einstellung zur Defäkation, wie der Beitrag einer Diskussionsteilnehmerin belegt: „Bei meinem jetzigen Freund ist es so, daß wir schon in einem Raum sind, wenn wir kacken, macht mir nix aus. Auch die Geräusche nicht, ist ja alles natürlich. Aber so direkt zuschauen, wie die Kacke da aus ihm rauskommt, nein danke!!"

Das muß ein starkes Tabu sein, das zwei Rufezeichen erheischt! Und wo ein starkes Tabu ist, da ziehen viele aus seiner Überschreitung großen Lustgewinn. Zum Beispiel macht man als Erwachsener ­ wenn man nicht alt oder krank ist ­ nicht in die Hose. Eine im World Wide Web gut organisierte Community von „panty poopers" geilt sich freilich genau daran auf, und man tauscht Heldengeschichten aus, wie man auf der Straße oder im Supermarkt in die Hose scheißt und dann den aufregenden Kitzel genießt, ob die Umwelt das nun mitkriegt, sieht oder riecht. In diesen Foren klagen auch viele darüber, daß sie es nicht wagen, sich ihrem Partner mit dieser Leidenschaft zu offenbaren. Die Einbeziehung von Scheiße in Sexspiele scheint noch immer das äußerste Tabu zu sein ­ eine Regelüberschreitung, die auch in der Aktionskunst der sechziger Jahre, etwa bei Otto Mühl, eine Rolle spielte: die Darmentleerung coram publico als größtmögliche Provokation.

Verdrängtes und Verbotenes schleicht sich aber auch in unsere Träume. Der österreichische Schriftsteller Andreas Okopenko etwa hat faszinierende Traumberichte veröffentlicht (Linz 1998), in denen er seine Träume unzensiert passieren läßt und dabei auch Skatologisches nicht ausspart. Im Kapitel „Versauungen" etwa lesen wir: „Es ist eine eilige Situation. Draußen warten schon die Leute, mit denen ich etwas arbeiten soll. Ich bin nur noch kurz aufs Klosett gegangen. Hier aber finde ich in der Muschel nicht hinabgespülten Kot einiger Menschen vor. Zwei Portionen begeistern mich: ein weiches braunes Gewürstel und vor allem ein gelber lehmiger Teighaufen. Da soll Eile Eile bleiben – ich muß davon kosten." Auf ganz andere Weise bricht sich Unbewußtes bei Alexander Kluge Bahn, der in seiner Chronik der Gefühle eine Geschichte erzählt, in der ein Kampfpilot sich des plötzlichen Stuhldrangs nicht erwehren kann, sich in die Hose macht und deshalb sein Ziel verfehlt. Wie sich später herausstellt, hätte er mit seiner Rakete eine Hochzeitsgesellschaft getroffen. „Die Darmzotten denken klüger als der Verstand", sagt Alexander Kluge, „seit sehr frühen Zeiten ist schon ein Stück Seele im Darm, und die macht es, daß wir in einem Moment der Gefahr dazu tendieren, uns zu entleeren."

Florian Neuner

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 8 - 2005 © scheinschlag 2005