Ausgabe 8 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Unter dem Pflaster liegt der Strand

Die „Bibliothek der Freien" hält anarchistisches Schriftgut bereit

Etwas versteckt befindet sich die anarchistische „Bibliothek der Freien" im zweiten Hof des Hauses der Demokratie. Nur einmal in der Woche, freitags von 18 bis 20 Uhr, öffnet die selbstverwaltete Bibliothek und macht etwa 2000 Bücher und über 10000 Zeitschriften von libertären Autorinnen, Autoren und Kollektiven sowie wissenschaftliche Publikationen zum Thema Anarchismus interessierten Lesern zugänglich.

Bakunin, Büchner, Camus, Chomsky, Durruti, Dutschke, Goldmann, Kropotkin, Landauer, Malatesta, Mühsam, Traven: Die Liste der Autoren, die die Idee des Anarchismus essentiell prägten oder ihr nahestanden, ist lang. Neben literarischen und theoretischen Einzelwerken gibt es Einführungen und Textsammlungen zum Anarchismus, sowie Literatur zu libertären Bewegungen in Deutschland, Spanien und anderen Ländern. Am liebsten möchte ich mich gleich auf eines der Sofas setzen und ad hoc ein paar Wissenslücken stopfen oder ein bißchen schmökern ­ man kann die Bücher aber auch ausleihen. Bis zu drei auf einmal dürfen sich die Besucher der Bibliothek mitnehmen, die Gebühr beträgt 2,50 Euro pro Monat bzw. 25 Euro pro Jahr. Die historischen Zeitschriften sind auf Bestellung aus dem Archiv erhältlich und in der Bibliothek einsehbar. Unter ihnen befindet sich so manche Perle, erzählt Wolfgang Eckhardt, einer der Betreiber der Bibliothek der Freien, z.B. die Ausgaben der Pariser Zeitschriften La voix du peuple und Germinal aus dem ersten und zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, Zeitschriften der International Workers of the World und diverse Publikationen aus dem spanischen Bürgerkrieg (z.B. Tierra y libertad und Acción obrera). Anarchistische deutschsprachige Zeitschriften gibt es aus allen Zeiten: Die ältesten stammen aus dem 19. Jahrhundert, wie etwa Der arme Konrad (seit 1896). Eine Fülle von Periodika aus den zwanziger Jahren sind erhältlich, darunter die Zeitschrift Fanal, die Erich Mühsam von 1926 bis 1931 herausgab, sowie aktuelle Publikationen der letzten Jahre wie direkte aktion, schwarzer faden oder wildcat.

Vor allem im Rahmen des internationalen Zeitschriftenarchivs kooperiert die Bibliothek der Freien mit befreundeten anarchistischen Bibliotheken in Europa; sie unterstützen unter anderem die größte polnische anarchistische Bibliothek in Poznán. Aus eigener Erfahrung wissen sie, wie wichtig Hilfe ist, um unabhängige Projekte ins Rollen zu bringen. „Wir verdanken einen großen Teil unseres archivarischen Bestandes der Zusammenlegung von drei Bibliotheken in Dortmund, bei dem unzählige Doubletten von historischen Zeitschriften für uns abfielen", sagt Eckhardt.

Die Bibliothek der Freien existiert seit 1993. Träger ist ein gemeinnütziger Verein. Zuerst befand sich die unabhängige Bibliothek in einem Kreuzberger Infoladen, 1999 zog sie ins Haus der Demokratie. „Hier gefällt es uns sehr gut, die Atmosphäre ist entspannt, und das Haus ist offen für jedermann", meint der Bibliothekar. Inzwischen gebe es auch wieder mehr Interesse für den Anarchismus: „Zum Glück!" Früher war ­ laut Eckhardt ­ die wissenschaftliche Karriere gefährdet, wenn man darüber forschte; in den letzten Jahren hat die Bibliothek mehrere Dissertationen zum Thema erwerben können.

„Uns ist es sehr wichtig, gegen Vorurteile anzugehen und den Leuten die Augen zu öffnen für den Anarchismus, der oft aus der offiziellen Geschichtsschreibung und den Biographien getilgt worden ist." Deutschland sei im Gegensatz zu Frankreich und Italien ein sozial-libertäres Entwicklungsland ­ und „in ein Entwicklungsland gehört Entwicklung". Die versucht die Bibliothek zu fördern, unter anderem durch Veranstaltungen, aber auch durch eigene Bibliographien und sogenannte Findebücher zu privaten Archiven ­ z.B. einem von Rudi Dutschke. Sie erscheinen im Internet (www.bibliothekderfreien.de) und im Berliner Karin Kramer Verlag.

Die „Freien" der Bibliothek sehen sich selbst in der Tradition des deutschen Vormärz und seiner radikal-freiheitlichen Haltung. Der Name bezieht sich auf die „Berliner Freien", eine antiautoritäre Gruppe aus den 1840er Jahren, an deren Treffen z.B. Friedrich Engels und Max Stirner teilnahmen.

Konstanze Schmitt

Die Bibliothek der Freien, Greifswalder Str. 4, Prenzlauer Berg, nächste Veranstaltungen: Lesung aus dem Science-Fiction-Roman „Planet des Ungehorsams" am 7. Oktober um 19 Uhr, Vortrag zum Thema „Föderalisierung statt Globalisierung?" am 4. November um 19 Uhr

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