Ausgabe 8 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Coole Poesie

Der Berliner Parthas Verlag wagt sich an die Gesammelten Werke von Gerhard Rühm

Als Gerhard Rühm 1967 im Rowohlt Verlag den Sammelband Die Wiener Gruppe herausgab, hatte sich die Gruppe bereits aufgelöst. Das Buch als Retrospektive leitete eine Ära angemessener Wahrnehmung dieser neo-avantgardistischen, experimentellen Literatur ein, um die sich zuvor nur engagierte Kleinverlage gekümmert hatten: als Gegengift zur Gruppe 47-Schreibe von Grass, Walser&Co. Einzelpublikationen von Autoren der Wiener Gruppe folgten, und Gerhard Rühm hat bis Anfang der Neunziger eine ganze Reihe von Büchern im Rowohlt Verlag publiziert. Aber irgendwann verlor der Verlag das Interesse an anspruchsvoller Literatur, übernahmen die Unternehmensberater in Reinbek das Regiment, und man meinte nicht nur auf Gerhard Rühm, sondern auch auf Autoren wie Elfriede Czurda, Werner Kofler und den späteren Nobelpreisträger Imre Kertész verzichten zu können. Deshalb erscheint jetzt ein so wichtiges Projekt wie die Gerhard-Rühm-Gesamtausgabe im Berliner Parthas Verlag; die anspruchsvollen Projekte wandern in kleine Verlage ab, während die großen Häuser von Journalisten zusammengestümperte autobiographische Romane auf den Markt werfen.

Der 1930 geborene Gerhard Rühm, der zunächst Klavier und Komposition studierte, später Professor für freie Graphik an der Kunsthochschule in Hamburg war, hat sich nie um die Grenzen zwischen den künstlerischen Disziplinen gekümmert. Die auf zehn Bände angelegte Gesamtausgabe, herausgegeben von dem Literaturwissenschaftler Michael Fisch, sieht nun Bände mit bildnerischen Arbeiten ebenso vor wie mit Tondichtungen und Klavierstücken, Bildgeschichten, Filmen und theoretischen Schriften. Gestartet wurde die Rühm-Ausgabe im Frühjahr fulminant mit einem 2000 Seiten umfassenden Doppelband mit Gedichten.

Wie können aber überhaupt so viele Seiten mit Gedichten entstehen bei einem Autor, der bereits 1968 unmißverständlich klarmachte: „ich halte den begriff ,lyrik' für historisch und spreche ihm aktuelle relevanz ab"? Bei Rühm kann man sich darauf verlassen, daß einem niemals Lyrik in dem überkommenen Sinne zugemutet wird, wie sie noch immer von den Kunzes und Grünbeins geschrieben wird ­ und leider auch von ältlichen Dreißigjährigen, die heute wieder, von der FAZ akklamiert, in Naturlyrik machen. Rühms Arbeit könnte man als Experiment im emphatischen Sinne beschreiben. Der Ideenschatz in den gesammelten Gedichten reichte für die Lebenswerke einer ganzen Reihe von Lyrikern. Er probiert unermüdlich neue Versuchsanordnungen aus, folgt immer wieder neuen formalen und inhaltlichen Anregungen, bleibt auch als 75jähriger nirgends stehen.

Faszinierend die Bandbreite in diesem Doppelband, der freilich nicht einmal das ganze Spektrum der „Lyrik" dieses Grenzgängers repräsentiert, denn die auditive und visuelle Poesie ist anderen Bänden der Werkausgabe vorbehalten. Eröffnet wird der erste Teilband mit konkreter Poesie, zum größten Teil zu Wiener Gruppe-Zeiten in den fünfziger Jahren entstanden, und Rühm entwickelt auf diesem Gebiet eine Wendigkeit und einen Phantasiereichtum, der weit über den oft platten Schematismus anderer Konkreter hinausgeht ­ etwa eine „levitation", die durch eine sukzessive Aufhellung der Vokale in Szene gesetzt wird. Es folgen Lautgedichte: „vokabulare", „wortspiele", „litaneien" oder „dreiunddreissig triolen" sind Abteilungen überschrieben, in denen sich Experimentierlust und Spieltrieb auf immer wieder überraschende Weise verbinden. Da stößt man dann etwa auf das „versepos" „im wirtshaus" als Vierzeiler: „sitz am tisch/kommt ein fisch/ist nicht frisch/weg ihn wisch".

Paraphrasen und Nachdichtungen enthalten die Bände ebenso wie Montagen, Anagramme, mit nur geringen Eingriffen in Zeitungsmeldungen arbeitende „zeitungsgedichte" aus jüngster Zeit, Chansons, selbst Haikus und eine mit „coole poesie" überschriebene Abteilung, in der es Rühm um die „literarische verwertung von trivialem, schockierendem, minderwertigem" geht. Aber auch der Abschnitt mit den vermischten Gedichten besticht durch Formenvielfalt ­ ein „hamburger zahlengedicht" mit dem Titel „bestattungen" geht schlicht so: „5009211", während das mit den Zeilen „die tulpe scheisst auf den rasen/ das veilchen furzt in die hand des gärtners/das vergissmeinnicht kotzt ins seidenpapier" beginnende „blumenstück" einst, in einem Schulbuch abgedruckt, gut war für einen Skandal.

Wer nicht glauben mag, daß Gedichtbände aufregende Lektüren sein können, der hat in dem lyrischen Lebenswerk Gerhard Rühms den Beweis. Eine größere Anschaffung zwar, aber mit dem Erwerb von vier bis fünf Enzensberger-, Grünbein- oder Gernhardt-Bänden ist man das Geld auch los ­ und hat doch viel weniger davon.

Florian Neuner

Gerhard Rühm: gedichte (Gesammelte Werke Band 1). Parthas Verlag, Berlin 2005, 98 Euro

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