Ausgabe 8 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Bauboom in Klein-Bloggersdorf

Im Vorfeld der Bundestagswahl etablierten sich Online-Journale

In Klein-Bloggersdorf ist in den letzten Monaten ein Neubaugebiet aus dem Boden gestampft worden. Der deutschsprachige Teil der virtuellen Ortschaft, die Gemengelage der Weblogs, die auch Blogsphäre genannt wird, erlebte im Vorfeld der Bundestagswahlen einen Bauboom und einen enormen Zuspruch seitens der etablierten Medien.

Online-Journale, sogenannte Blogs, haben im angloamerikanischen Raum schon seit Jahren immer mehr an publizistischem Stellenwert gewonnen. Durch die schnelle Veröffentlichung von Augenzeugenberichten der Londoner Anschläge nebst verwackelter Handyfotos oder auch als Ersatz für die abgesoffenen Tageszeitungen in New Orleans haben Blogs erst jüngst gezeigt, was sie leisten können ­ und was sie unterscheidet von herkömmlichen Medien.

In technischer Hinsicht sind Blogs nichts Spektakuläres. Es sind Websites, auf der ein oder mehrere Autoren Texte, Bilder, Audio- und Videodateien veröffentlichen können. Der aktuellste Eintrag steht immer an oberster Stelle. Letztlich fassen Blogs an Features das zusammen, was die meisten User früher auf ihrer Website ­ mehr oder minder mühsam programmiert ­ präsentiert haben. Nur sind Blogs unheimlich einfach zu bedienen: Wenn man eine E-Mail schreiben und versenden kann, kann man auch ein Blog führen. Innerhalb von wenigen Minuten ist über Angebote wie etwa blogger.de (das dem Internet-Riesen Google gehört) ein eigenes Blog eröffnet.

Die Blogsphäre umfaßt so ungefähr jedes Themengebiet. Bei blogg.de sind schon über 60000 deutschprachige Blogs verzeichnet. Da kommt es ­ vornehm ausgedrückt ­ zu Schwankungen bei der Qualität der Inhalte. So pflegt der eine mittels der „social software" Blog den Austausch mit seiner Forschungsgruppe und dokumentiert ein gemeinsames Projekt. Der zweite nutzt es einfach als Tagebuch, schildert seine Eindrücke aus Alltag, Urlaub oder Beruf. Aber vor allem bezieht er sich immer auch auf andere Blogs und Websites, die verlinkt werden. Hier ist der Übergang zur dritten Art von Blogs fließend ­ den Fachidiotenblogs, seien es Hobbyfunker oder Tiefseetaucher. Für nahezu jedes „special interest" findet sich ein Blog. Das gilt auch für den Bereich Pornographie und Neonazis, die auf diese Technik zurückgreifen, um ihre Haßtiraden weiterzutragen.

„Blogs sind Medienfilter", sagt Johnny Haeusler, „die Leser fangen an, einem Blog Vertrauen zu schenken, wenn die Qualität sitmmt." Er betreibt seit 2002 ein Blog aus Berlin namens spreeblick.de, das mit Beobachtungen zur Medienwelt aber auch Berliner Themen seit dem Herbst 2004 immer mehr Leser gewonnen hat und jetzt gut 5000 Leser pro Tag zählt. Die Qualität von Blogs reguliert sich selbst, meint der Blogger. Stimmt sie nicht, blieben die Leser weg. Das wirklich Phänomenale an Blogs sei aber, daß sie „unheimlich schnell" seien. Durch Links und Rückverweise verbreiten sich Nachrichten mit enormer Geschwindigkeit durch die Blogsphäre. Denn jeder Blogger liest zahlreiche andere Blogs und berichtet dann über interessante Neuigkeiten oder Gedanken eines anderen Bloggers auf seiner eigenen Seite.

Im Vorfeld der Bundestagswahlen will der Blogger Haeusler eine „Politisierung" der Blogsphäre wahrgenommen haben. So hätten etliche Blogs angefangen, sich mit dem Wahlkampf zu beschäftigen. Tatsächlich saßen Blogger auf Einladung der Parteien auf den diversen Wahlparteitagen und kommentierten per Tastatur live die Inszenierungen. Auch die Parteien selbst wollten ihre Medienkompetenz beweisen und bedienten sich der Blog-Technik für Wahlkampf-Tagebücher ihrer Kandidaten. Überparteiliche Angebote wie wahlblog.de boten verschiedenen Politikern und Beobachtern eine Plattform. Bei der Zeit und der Süddeutschen Zeitung bloggt man auch schon, und das ZDF schickte ein Bloggerteam auf eine Wahlbeobachtungs-Tour quer durch die Republik.

Haeuslers Prognose nach werden sich einige Blogs mit der Zeit zu anerkannten Online-Magazinen entwickeln. Zudem würden Blogs in vielleicht zwei Jahren die ersten multimedialen Stars hervorbringen. Per „Podcast" (Audiobeiträge) oder „Vlogs" (kurze Videofilme), werden Internet-Shows entstehen, die eine enorme Anhängerschaft binden könnten, meint Haeusler.

Er habe erst nicht glauben wollen, sagt der ehemalige Radiomoderator, daß Leute wirklich Podcasts hören. Seit einigen Wochen mache er jetzt aber auf spreeblick.de ein Podcast, das oft heruntergeladen würde. Das Internet sei die „zentrale Unterhaltungsmaschine" für die junge Generation geworden, stellt Haeusler fest. Das Leben ist mobil, sei deren Credo. So habe er beobachtet, wie trotz miesen Klangs Jugendliche ihr Handy als modernen Ghettoblaster nutzten, um an der Straßenecke gemeinsam Musik zu hören.

Lorenz Matzat

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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