Ausgabe 7 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Mysteriöse Geräusche in Neukölln

Künstler intervenieren überall im Bezirk

Kunst im öffentlichen Raum – darunter verstand man lange Zeit zweitklassige modernistische Skulpturen, die auf zentralen Plätzen noch in jeder Kleinstadt ein Publikum, das den Weg ins Museum für Gegenwartskunst weder suchte noch fand, an „moderne Kunst" heranführen sollten. Didaktische Ansinnen dieser Art sind den Kuratoren Birgit Anna Schumacher und Uwe Jonas fremd, die nun schon zum wiederholten Male Neukölln mit „interventionistischer" Kunst überziehen – einer Kunst, die eben nicht Kunstwerke aus Museen auf die Straße transferieren, sondern im Stadtraum und auf ihn reagierend etwas Spezifisches entwickeln will.

Im Rahmen des Projekts Okkupation werden zwölf künstlerische Interventionen ­ sieben im September, fünf weitere im Sommer 2006 ­ zwischen der Gropiusstadt und dem Maybachufer stattfinden. Dabei geht es dem Kuratoren-Duo weder darum, in Neukölln für zeitgenössische Kunst zu missionieren, noch darum, Kunstinteressierte aus Mitte oder woher auch immer als Kulturtouristen an Ausstellungsorte jenseits der gewohnten Pfade zu locken. Entscheidend ist, was vor Ort und in Interaktion mit den Bewohnern der jeweiligen Kieze passiert. Willkommen sind Neugierige aus anderen Bezirken aber natürlich schon.

Vielleicht wird der finnische Performance-Künstler Roi Vaara ja gar nicht sonderlich auffallen, wenn er vom 12. bis zum 16. September im schwarzen Frack täglich mehrere Stunden an belebten Plätzen stehen wird, bis der Blumenstrauß in seiner Hand verwelkt sein wird. Denn der Neuköllner ist tolerant und hat doch schon einiges gesehen auf den Straßen seines Bezirks. Sicherlich auffallen wird hingegen die Kanone, die Birgit Anna Schumacher und Uwe Jonas unter der S-Bahnbrücke am Bahnhof Neukölln aufstellen wollen, um damit ein fiktives „Stadttor" zu markieren. Nach Erklärungen und einem Hinweisschildchen wird der ob des ungewöhnlichen Stadtmöbels Verwunderte aber vergeblich suchen, denn Schumacher und Jonas wollen ihre Kunst nicht als Kunst hervor- und von der Alltagsumgebung abheben, sondern vielmehr in den Alltag hinein wirken. So wird man auch nicht erfahren, warum Ingo Gerken die Bestuhlung einiger öffentlicher Plätze um von Egon Eiermann, Arne Jacobsen u.a. entworfene Sitzmöbel ­ Klassiker des modernen Designs ­ ergänzt. Aber man kann diese Sitzgelegenheiten natürlich benutzen, und der Kontrast zu den gewohnten Bänken wird dann wohl für sich sprechen.

Angst vor Vandalismus haben Schumacher und Jonas jedenfalls nicht. Sie haben schon einige Erfahrung mit Kunstprojekten in Neukölln, und sie haben auch beide längere Zeit in dem Bezirk gewohnt, den sie als „guten Querschnitt von allem" begreifen. Im Rahmen der Areale Neukölln fanden bereits 2001 künstlerische Interventionen statt, seit 2002 gibt es das Pilotprojekt Gropiusstadt, mit dem jährlich 24 Künstler in eine von der Wohnungsbaugesellschaft GEHAG zur Verfügung gestellte Wohnung geholt werden. Über ihre Erfahrungen in Neukölln schreiben die Kuratoren: „Hier wird der Kunst, die sich in den Lebensraum und in alltägliche Gewohnheiten einmischt, offen und gesprächsbereit begegnet. Die ,Reibungen', die solche Kunst gelegentlich verursacht (und dies ja auch will), führten nie zu Reaktionen, die auf völlige Ablehnung hingedeutet hätten ­ etwa in Form von Beschädigungen oder Zerstörungen von Arbeiten."

Nun zeichnen sich die Projekte, mit denen jetzt Künstler öffentliche Orte in Neukölln „okkupieren" auch nicht durch ein besonderes Provokationspotential aus. Von seinem Vorhaben einer „Teilüberflutung" der Gropiusstadt, das vielleicht für Aufregung gesorgt hätte, hat der Bochumer Künstler Matthias Schamp nach der Flutkatastrophe in Asien Abstand genommen. Er sitzt stattdessen in einem Laden in der Karl-Marx-Straße 204, wo man ihn besuchen und sich zu Exkursionen auf dem „Botanischen Lehrpfad Karl-Marx-Straße" anmelden kann. Schamp beschäftigt sich dabei nicht nur mit Grünstreifen und Unkräutern, die aus Spalten im Mauerwerk wuchern, er will der Magistrale des Bezirks mit einem „erweiterten Botanikbegriff" zu Leibe rücken, der auch Salatblätter auf Fast-Food-Plakaten, Obst und Gemüse in Schaufenstern oder Pflanzenornamente an Fenstergittern mit einschließt.

Zu einer neuen Kommunikationskultur will hingegen die Gruppe public works den Neuköllnern verhelfen. Verschiedene Orte ­ darunter die Sonnenallee 132 und die Johannisthaler Chaussee auf der Höhe des U-Bahnhofs ­ sollen zu Treffpunkten gemacht werden, an denen „Nachrichten, Geschichten, Botschaften und Gerüchte" weitergegeben werden können. Ansprechpartner an den ausgewählten Plätzen sind Boten, die auch die Weiterleitung der Nachrichten übernehmen ­ vielleicht eine Alternative zur immer unzuverlässigeren Post, wenn auch nur eine temporäre? Denn wie alle Interventionen wird auch diese keine bleibenden Spuren im Stadtraum hinterlassen, wie es die überkommene „Kunst im öffentlichen Raum" tat.

Im Foyer des Saalbaus Neukölln zeigt das Amsterdamer Künstlerkollektiv ILAP (Indoor Land Art Programme) eine Ausstellung, die Forschungsergebnisse über „mysteriöse Geräusche in Neukölln und ihre globale Bedeutung" präsentiert. Über „terrestrische und kosmographische Phänomene im Bezirk" haben allerdings nicht die Niederländer geforscht, sondern die nicht minder mysteriöse, von ihnen entdeckte Figur des Neuköllners Norbert Mayer. Der eigenwillige Gelehrte ist am 7. August das letzte Mal gesehen worden, als er in verwirrtem Zustand sein Haus verlassen hat. Der 1971 Geborene soll eine schwarze Lederjacke tragen, sich gerne in Gesellschaft von Kindern aufhalten und außerdem Verkehrsunglücke und das Wetter voraussagen können.

Am ehesten noch ein Werk im traditionellen Sinne ist Hans Winklers Kurzfilm Letzte Ausfahrt 44, der im September in einigen Neuköllner Kinos laufen wird. Es handelt sich um einen Trailer zu einem imaginären Film, der von Überfällen und Morden in Neukölln erzählt. Die Dreharbeiten, in die zahlreiche Neuköllner verwickelt wurden, hatten allerdings auch etwas Interventionistisches.

Vorausgegangen ist der Okkupation ein Symposium mit den teilnehmenden Künstlern im März 2004, bei dem theoretische Grundlagen für das Intervenieren im Stadtraum erarbeitet wurden. Was können Künstler in einer Situation tun, in der der öffentliche Raum zunehmend privatisiert wird, ersetzt durch Simulationen von Öffentlichkeit in videoüberwachten Shopping Malls? Martina Reuter von der Wiener Gruppe WochenKlausur meint, Kunst könne „die Wichtigkeit des öffentlichen Raums den Menschen verständlicher machen, sie dazu bewegen, sich wieder mehr an Debatten zu öffentlichen Themen und an der Mitgestaltung an der demokratischen Gesellschaft zu beteiligen". Das würde in Neukölln so wenig schaden wie in allen anderen Bezirken.

Florian Neuner

* www.okkupation.com

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 7 - 2005 © scheinschlag 2005