Ausgabe 7 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Kugel oder Henkel?

Neukölln als letztes Asyl für nomadisierende Biertrinker

Es soll ja immer noch Biertrinker geben, die ihr Bier am liebsten in einer anständigen Eckkneipe zu sich nehmen und nicht in Lounge-Atmosphäre, in Cafés oder gar in Imbissen, aus Halblitergläsern und nicht aus 0,33l-Flaschen. Die haben es in der östlichen Innenstadt immer schwerer, und man kann schon in Versuchung kommen, der Misere zu entfliehen, für einen Abend oder für immer – z.B. in Richtung Süden, nach Neukölln. Denn neben den im Wochen-Rhythmus stattfindenden Straßenfesten sind es vor allem die Eckpinten, die Neukölln zu dem machen, was es ist: zu einem lebenswerten Bezirk. Gerade im nördlichen Neukölln gibt es diese vortrefflichen Schenken in einer Dichte, wie sie früher mal für ganz Berlin typisch war, mittlerweile aber nur noch hier zu finden ist. Allerdings ist man mit dem Problem konfrontiert, daß viele dieser Kneipen Öffnungszeiten haben, wie sie, nun ja, eben früher mal üblich waren.

Fährt man mit der U-Bahn zur Hermannstraße, um diese dann in Gegenrichtung entlangzusaufen ­ aber nicht weiter als bis zum Hermannplatz! ­, so stößt man stante pede auf eine anständige Kaschemme. Der Name „Zur alten Mittenwalder" mag einem komisch vorkommen, wenn man nicht weiß, daß diese Kneipe sozusagen ein Monument für die untergegangene Bahnstrecke nach Mittenwalde darstellt, die hier ihren Ausgangspunkt hatte. Allerdings schließt das Lokal bereits um 22 Uhr, während man seinen Trinktag hier dafür bereits um 6 Uhr morgens beginnen kann.

Auf der anderen Seite der S-Bahn-Brücke lockt die 24-Stunden-Kneipe „Zum Umsteiger" ­ eine perfide Einrichtung eigentlich, denn man kann hier munter weitersaufen, wenn die letzten S- und U-Bahnen längst abgefahren sind. Dort also sitzen sie, die gescheiterten Umsteiger, Herrschaften im besten Alter mit Arbeitslatzhosen, und machen das, was ein Umsteiger nun mal so macht ­ sich binnen kürzester Zeit einen gehörigen Rausch verpassen, während ein Fußballspiel über den Bildschirm flimmert und Rammstein aus den Boxen dröhnt.

Der „Bienenkorb" an der Ecke Emser Straße hingegen ist völlig leer, als wir kommen. Die Wirtin nickt auf unsere Frage, ob wir noch ein Bier bekämen. Später treten auch hier Latzhosenträger auf den Plan, es wird nicht die erste Kneipe sein, in der sie Feierabendbiere trinken. Sie scheinen dem an der Theke affichierten Motto zuzustimmen: „Für Bier würden wir sogar arbeiten!" Auf der Fototapete im hinteren Gastraum hocken bedrohlich riesige Metallbienen; wir unterhalten uns über Kannibalismus, denn die in allen diesen Kneipen ausliegenden Drecksblätter berichten wieder einmal von „Neuköllner Sexmonstern". Ob diese Latzhosenträger am Ende auch Sexmonster sind? Im Fernsehen, das auch hier läuft, wird verkündet: „Es ist alles noch offen." Also nichts wie weiter ­ der Abend und die Hermannstraße sind noch lang.

Im „Warthe-Eck", endlich, wird dann erstmals die Frage gestellt, auf die wir schon die ganze Zeit gewartet haben und die man außerhalb Neuköllns nicht mehr oft vernimmt: „Kugel oder Henkel?" Nach dem im Chor angestimmten „Henkel!" schauen wir uns um: Die Kneipe ist mäßig gefüllt, an den Wänden hängen ganz entsetzliche Berglandschaftsbilder und Fotos von Komatrinkern mit hochroten Köpfen. Neben uns brabbelt und schimpft ein dickes Etwas: „Wie bescheuert seid ihr eigentlich?" Das Schultheiss kommt: Es ist hier noch schlechter als das Schultheiss in der letzten Kneipe. Im „Handwerkerstübchen" dann, kurz vor dem Schließen, kurz vor halb eins, will man uns nur noch einen Schnaps geben und hätte uns auch noch einen zweiten gegeben, aber wir wollen ja in keiner Kneipe hängenbleiben.

Danach in die „Boddinstuben", dieser Laden war uns angepriesen worden als ein Ort des wahrhaft dionysischen Vergnügens samt singender Gäste, tanzender Wirtin und ständig laufendem Zapfhahn. Und dann das: Verriegelt! Verrammelt! Und das einem Mittwoch, dem besten Tag für bierbefeuerte Kapriolen!

Die Tür des „Bären-Ecks" schräg gegenüber allerdings ist weit geöffnet, also hinein, diesmal ordern wir aber sicherheitshalber zwei Berliner Pilsener; womöglich wird das Schultheiss ja immer ungenießbarer, je näher man dem Hermannplatz kommt. Im Hintergrund turnen ein paar Jugendliche, die ganz und gar nicht den Eindruck machen, als seien sie schon 18, um den Billardtisch herum. Wir sitzen unter der Asbach-Uralt-Leuchtreklame, hören auf das beruhigende Gemurmel um uns herum, und da befällt uns dann doch eine gewisse Bierschwere, wir bestellen noch ein Bier und noch eins ...

Roland Abbiate/Peter Stirner

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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