Ausgabe 7 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Mosaiksteinchen einer sozialen Protestbewegung

Ein Gespräch mit Martin Keßler über seinen Film Neue Wut

Martin Keßlers Dokumentarfilm Neue Wut erzählt die „wahre Vorgeschichte" der vorgezogenen Bundestagswahlen. Der Filmemacher hat die sozialen Proteste gegen Hartz IV und fünf Protestierer ein Jahr lang begleitet.

In Ihrem Film wollen Sie die Geschichte der Anti-Hartz-IV-Proteste des vergangenen Jahres erzählen. Wie sind Sie an die Menschen gekommen, die, wie Sie sagen, im Mittelpunkt des Films stehen?

Seit Herbst 2003 habe ich die verschiedenen Proteste beobachtet und dabei gedreht ­ ursprünglich für ein Dokumentarfilmprojekt fürs Fernsehen über die öffentliche Armut deutscher Städte und die Reaktion der Bürger. Ob sie den Ausverkauf öffentlichen Eigentums einfach hinnehmen. So in Frankfurt am Main. Dort wollte man die gesamte U-Bahn an einen US-Investor verleasen. Die Bürger haben das Geschäft zum Platzen gebracht. Oder in Berlin. Da haben schon im November 2003 100000 Menschen gegen Sozialabbau demonstriert. Oder in Bochum beim Bundesparteitag der SPD. Das sind alles Mosaiksteinchen einer sozialen Protestbewegung. Auch Barbara Willmann, die arbeitslose Bankangestellte aus Frankfurt, habe ich während dieser Proteste kennengelernt, dem Opel-Arbeiter Paul Fröhlich begegnete ich beim SPD-Parteitag. Werner Halbauer traf ich auf einer Montagsdemo in Berlin, und von dem Magdeburger Andreas Erholdt habe ich in den Medien gehört. Ich habe ihn sofort angerufen und dann ein Jahr lang begleitet ...

Wolfgang Clement, DGB-Chef Michael Sommer und der Jesuitenpater Prof. Hengsbach kommen aber auch ­ sogar etwas konkreter ­ zu Wort. Haben die Demonstranten selber nichts Genaueres zu sagen gehabt? Gab es da nicht mehr als nur „Wut"?

Der Film zeigt, warum die Menschen wütend sind, er zeigt auch, daß sie nicht nur emotional reagieren. Daß sie überlegen, was sie machen und warum. Es gab schon analytische Momente auf den Demonstrationen. In Magdeburg etwa wurde heftig über die Rolle der Parteien gestritten. Die Menschen sind nicht nur wütend, sie argumentieren. Die These, die der Film aufstellt, ist, daß das Mißtrauen gegenüber der „offiziellen Politik" enorm gewachsen ist. Die letzten Landtagswahlen haben das gezeigt. Es wäre falsch zu behaupten, daß Clement und Sommer mehr zu sagen hätten als die Demonstranten.

Clements Verhalten zum Start von Hartz IV (im Film zu sehen, Anm. M. H.) im Arbeitsamt von Wismar ist vor allem Ausdruck seiner Hilflosigkeit. Oder Michael Sommer. Er spricht von der Kluft in den Gewerkschaften ­ ohne Lösungen parat zu haben. Es ging mir darum, auch die Zusammenhänge zu zeigen, zwischen dem, was in den Betrieben los war und ist, und Hartz IV. Ich habe auch bei Protesten bei Mercedes und bei VW in Kassel gefilmt.

Aber wird das Thema nicht zu stark vereinfacht, indem Sie sich auf Personen konzentrieren?

Neue Wut ist keine Dokumentation, sondern ein Dokumentarfilm ...

... mit mehr als einem Hauch von Reportage ...

Ja, er geht stark in Richtung Reportage. Dadurch spreche ich stärker das Einfühlungsvermögen der Zuschauer an. Gerade auch von Menschen, die bisher nichts mit den Protesten am Hut hatten. So, wenn der Film zeigt, wie es Barbara Willmann im Arbeitsamt ergeht, wird da viel mehr über Hartz IV deutlich als in hochtheoretischen Abhandlungen.

Der Film begleitet die Vorstufen der sogenannten neuen Linkspartei, Lafontaines Rede in Leipzig, wo er „austestet", wie er ankommt.

Viele Menschen fanden, daß die Proteste auf der Straße nicht ausreichen, und ziehen die Konsequenzen. Andreas Erholdt gründet seine eigene kleine Partei. Andere, wie Werner Halbauer, bauen die Wahlalternative auf. Barbara Willmann ist skeptisch ­ sie ist in keiner politischen Partei und versucht sich alleine durchzuschlagen.

Sie haben viele Reportagen und Dokumentarfilme über soziale Themen fürs Fernsehen gemacht, aber bis jetzt haben Sie vergeblich versucht, einen Sender für Neue Wut zu finden. Was für ein Problem gibt es mit dem Film?

Ich arbeite seit 20 Jahren für das öffentlich-rechtliche Fernsehen und ich wundere mich. Im Mai sind Ausschnitte auf den Mainzer Tagen der Fernsehkritik gelaufen. Der Film ist inzwischen bekannt, es gab viel positive Resonanz, auch in den Medien. Viele Fernsehsender berichteten über den Film, doch der Film selbst hat immer noch keinen Sendeplatz.

Ich konnte nicht ganz feststellen, ob Sie für oder gegen die Proteste sind. Sie gaben in einem Interview an, neutral sein zu wollen.

Neutral habe ich nicht gesagt, eher beobachtend. Natürlich hat jeder Filmemacher eine Position, und auch sein Film. Neue Wut hat Sympathie für die Figuren, die er begleitet ­ aber er zeigt auch ihre Schwächen und die der sozialen Bewegung.

Die Berliner Zeitung schrieb von Propaganda.

Das Verständnis von Propaganda in diesem Artikel ist sehr weit gefaßt, im Sinne von eigener Haltung, die man einnimmt. Natürlich entscheide ich als Filmemacher, was ich filme, was in den Film kommt und wie ich es bewerte. Bei 180 Stunden Filmmaterial geht das gar nicht anders. Aber unter Agitprop verstehe ich etwas anderes. Nämlich den Versuch, dem Zuschauer eine bestimmte Weltsicht aufs Auge zu drücken. Das tue ich nicht. Der Film läßt dem Zuschauer Raum, sich eigene Gedanken zu machen, eigene Schlüsse zu ziehen. Insofern kann man den Film gerade auch vor einer Bundestagswahl im Fernsehen zeigen.

Ich finde nicht, daß eine bestimmte Partei besonders gut rüberkommt. Als Wahlwerbung ist der Film keineswegs geeignet, weder für die PDS, mit oder ohne Lafontaine, oder für Andreas Erholdts Kleinstpartei, oder für die MLPD.

Es scheint aber da eine besondere Empfindlichkeit zu geben, auch bei den Fernsehsendern. Trotzdem hoffe ich, daß er noch im Fernsehen läuft. Die große öffentliche Resonanz zeigt, daß der Film beim Publikum gefragt ist. Vorführungen in mehr als 50 Städten sind bereits in Planung, und wir haben schon mehrere hundert DVDs und VHS verkauft.

Interview: Matthew Heaney

* „Neue Wut" läuft u.a. im ACUD vom 5. bis 7. September (am 5. in Anwesenheit Martin Keßlers). Weitere Termine und Verkauf unter www.neuewut.de

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