Ausgabe 7 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Lesen: der neue Luxus

Wie die Staatsbibliothek ihre Nutzer loswerden will

Langjährige Benutzer, Studenten, Doktoranden, Wissenschaftler, lesebegeisterte Europäer staunten nicht schlecht, als ihnen neulich, gleich nachdem die Pförtner die Tore der Staatsbibliothek Unter den Linden und in der Potsdamer Straße geöffnet hatten, die neue Benutzungsordnung quasi aufs Auge gedrückt wurde.

Tagesbesucher, also Touristen, Berliner und andere Neugierige, erhalten ab 1. September 2005 nur noch mit Voranmeldung Zugang zur Bibliothek, Tageskarten, bisher 50 Cent das Stück, und Wochenkarten für 2 Euro werden abgeschafft. Begründung: Diese Maßnahmen sollen der besseren Sicherung der Bestände dienen. Eine merkwürdige Begründung, haben doch die meisten Bücher der Bibliothek schon seit Jahren eine elektronische Sicherung (bzw. sollten sie haben), die bisher zuverlässig am Ausgang Alarm schlug, sofern Bücher unrechtmäßig „entliehen" wurden.

Ob man sich mit dieser Aktion den teuren Geldwechselautomaten sparen will, nach dem so viele Besucher gefragt hatten, sei mal dahingestellt. Aber daß solche Maßnahmen das touristische Image der Stadt ganz erheblich beeinträchtigen können, wenn erst mal ausländische Zeitungen von dieser Posse erfahren ­ Staatsbibliothek für Touristen nur gegen Voranmeldung zu besichtigen ­ sollte die Senatsverwaltung der Bibliotheksleitung klarmachen, bevor es zu spät ist.

Die zweite weitgreifende Änderung der Benutzungsordnung der Staatsbibliothek wegen der leeren Kassen zwar verständlich, eine Anhebung der Jahreskartengebühr von 15 Euro auf 25 Euro, also um 66,6 Prozent, ist es aber nicht. Das Argument, schließlich handle es sich hier um die erste Benutzergebührenerhöhung seit 1998, ließ die entsetzten Gesichter der Dauerbenutzer am frühen Morgen kaum verständnisvoller blicken. Denn diese saftige Erhöhung ­ viele sprachen von einer unglaublichen Unverschämtheit ­ bedeutet schließlich im Umkehrschluß, eine jährliche Erhöhung von knapp 10 Prozent pro Jahr gerechnet auf die vergangen sieben Jahre.

Es drängt sich der Verdacht auf, daß hinter dieser Erhöhung noch andere Gründe stecken, zumal im Rahmen des Um- und Neubaus der Bibliothek sowie zur Bestandserhaltung in den nächsten Jahren genügend Gelder zur Verfügung stehen werden ­ man spricht von mehreren hundert Millionen Euro ­, die eine solch dreiste Erhöhung nicht notwendig erscheinen lassen. Bibliotheksangestellte widersprechen jedenfalls nicht, wenn man als weiteren Grund neben der Bestandserhaltung eine Vertreibung lästiger Studenten vermutet, die mit ihren Mobiltelefonen, ob ausgeschaltet oder im Vibrationsmodus, nur stören, die Plätze unnötigerweise besetzen, die eigentlich für arrivierte Benutzer vorgesehen sind. Es sei daran erinnert, daß Studenten nichts dafür können, daß sie im 21. Jahrhundert leben, E-Mails schreiben müssen und vor überfüllten und schlecht ausgestatteten Uni-Bibliotheken flüchten, um überhaupt noch eine Chance zu haben, an Wissen heranzukommen.

Wenn also Lesen tatsächlich zum neuen Luxusartikel werden sollte, wo nur wohlhabende Rentner sich Zugang zu mehr Wissen werden leisten können, dann gute Nacht, Deutschland.

Marc Mellowny

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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