Ausgabe 6 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Zwischen „Negermusik" und Schulungskursen

Collage: Jurij Adrian

Am 2. Juni 1967 wurde der Schah von Persien zum Staatsbesuch in Westberlin erwartet. Über dessen Terrorregime wußten wir bereits einiges. Nicht zuletzt wegen seiner Schnalle Farah Diba, die eine Heldin der Klatschpresse war. Die Leute waren genauestens darüber informiert, warum der Schah seine erste Frau, Soraya, verstoßen hatte; sie konnte keine Kinder kriegen. Aber was für ein unglaublicher Verbrecher der Schah war, wurde von den meisten ignoriert.

Am Vorabend des Staatsbesuches gab es in der Universität eine Versammlung. Ich sah und hörte Rudi Dutschke. Ein bemerkenswerter Mensch, der einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterließ. Er rief unverhohlen zum gewaltsamen Widerstand gegen den Schah-Besuch auf, weil wir das Recht, ja die Verpflichtung dazu hätten.

Der heiße Empfang für den Tyrannen fand vor dem Rathaus Schöneberg statt. Der Westberliner Oberbürgermeister und Pastor Heinrich Alberts konnte seine Gäste unter „Mörder, Mörder"-Rufen gar nicht schnell genug ins Rathaus kriegen. Etliche Studenten hatten Papiertüten mit Löchern für die Augen über den Kopf gestülpt. Auf den Tüten waren entweder das Gesicht von Farah Diba oder des Schahs aufgedruckt. Agenten des iranischen Geheimdienstes Savak, die sogenannten „Jubelperser", gingen mit Latten auf uns los, tatkräftig unterstützt von der Polizei. Ich wurde in einen Hausflur gegenüber dem Rathaus abgedrängt, bekam einen Gummiknüppel übergezogen und fand mich kurze Zeit später im Polizeigefängnis Gothaer Straße wieder.

Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich erkennungsdienstlich behandelt, d.h. von mir wurden Fingerabdrücke genommen, und ich wurde von drei Seiten fotografiert. Am frühen Abend gab es Hektik im Zellentrakt. Aufgeregte Polizisten schlugen mit Schlüsseln und Gummiknüppeln gegen die Gitter und brüllten uns an. Schließlich filterte sich aus dem Gelärme die Nachricht: Die Demonstranten vor der Deutschen Oper, in der Alberts und der Schah nebst Anhang sich mit der Zauberflöte von Mozart amüsieren wollten, hätten einen Polizisten erstochen. Jetzt würde man andere Saiten aufziehen, unter Adolf hätte man mit Gesindel wie uns kurzen Prozeß gemacht usw. Einige Zeit später kam dann die andere, nicht weniger schlimme Nachricht: Nicht ein Polizist war umgekommen, sondern ein Student. Durch die Kugel eines Zivilpolizisten.

Am nächsten Vormittag wurde ich entlassen. In der Universität jagte eine Veranstaltung die nächste, Pressekonferenzen wurden abgehalten, der Nebel über den Ereignissen des Vortages lichtete sich. Polizeichef Duensing hatte vor der Deutschen Oper erstmalig seine „Leberwursttaktik" zum Einsatz gebracht: „In die Mitte des Demonstrationszuges hineinstechen und dann nach beiden Seiten hin ausdrücken." Das Resultat waren Dutzende Verletzte, und in einer Garageneinfahrt in einer Nebenstraße schoß der durchgegangene Zivilpolizist Karl-Heinz Kurras dem unbewaffnet fliehenden Studenten Benno Ohnesorg aus nächster Nähe in den Hinterkopf.

Westberlin war nicht wiederzuerkennen. Die Springerpresse begann eine beispiellose Hetzkampagne gegen die Studenten und alles Nichtangepaßte. Darunter fielen auch wir, die Langhaarigen, Bunten, Lauten. Außer der Haartracht unterschied uns einiges von den Studenten. Die erschienen uns teilweise zu angestrengt, und sie redeten oft unverständliches Zeug, benutzten einen Haufen Wörter, die wir Lehrlinge und jungen Arbeiter nicht kannten. Einige Wortführer der Studenten behandelten uns etwas von oben herab. Manchmal, wenn sie uns agitieren wollten, predigten sie doch nur. Den Ton kannten wir von Eltern, Lehrern und Ausbildern zur Genüge. Es gab zwar Überschneidungen mit den Studenten, aber wir hatten unsere eigenen Kneipen und Treffpunkte. Sicherlich spielten auf beiden Seiten auch Standesdünkel eine Rolle, denn die Mehrheit der Studenten stammte aus bürgerlichen bis großbürgerlichen Verhältnissen. Ende der Sechziger kamen ganze zwölf Prozent der Studenten aus dem Arbeitermilieu. Gleichwohl beteiligten wir uns an den Demonstrationen. Bald waren wir genug, um einen eigenen Block zu formieren. Natürlich waren einige von uns auf Krawall frisiert. Doch die meisten trieb echte Empörung zu den Umzügen. Wenn es dann hin und wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam, waren wir ganz vorn anzutreffen. Schließlich waren wir die Einzigen, die Erfahrungen im ­ nun ja ­ „Umgang" mit der Polizei hatten.

Begonnen hatte alles mit den großen Pop- und Rockkonzerten etwa ab Mitte der sechziger Jahre. Da spielten alle diese Bands, die wir verehrten, deren Musik uns ungemein inspirierte, in der Hauptstadt. Aber was für wahnwitzige Eintrittsgelder wurden dafür fällig. Zwanzig Mark ­ das war für uns Lehrlinge oder junge Arbeiter viel zu teuer. Also kam irgendwer auf die Idee: Wir versammeln uns vor den Eingängen und sobald wir genug sind, gehen wir rein. Gesagt, getan. Die paar Ordner hatten keine Chance. Die Premiere fand 1965 beim Stones-Konzert in der Waldbühne statt. Die Stones selber trugen dazu bei. Sie zickten herum, verweigerten Zugaben und mußten schließlich mit einem britischen Militärhubschrauber evakuiert werden. Die inzwischen alarmierten Bullen konnten die Zerlegung der Waldbühne nicht verhindern; auch danach ging's zur Sache, was dazu führte, daß der eine oder andere S-Bahnwagen dran glauben mußte. Die Idee des „freien Eintritts" qua Masse fand immer mehr Anhänger. Das führte dazu, daß die Schlachten mit der Polizei schon im Vorfeld, auf den Vorplätzen der großen Hallen und Arenen, stattfanden. Die Erfahrung, daß wir mit Gewalt etwas bekommen konnten, das sonst für uns unerreichbar gewesen wäre, war die erste und wichtigste Politisierung für uns, die Gammler, den „Blues", wie wir uns selber nannten.

„1968", „die Achtundsechziger" ­ alles Quatsch. Ab Mitte 1967 brannte in Westberlin die Luft, war nichts mehr, wie es einmal war. Die Bevölkerung war mehrheitlich gegen uns eingestellt. Es kam vor, daß aufgehetzte Taxifahrer, die sich in Westberlin damals wie Hilfssheriffs vorkamen, oder Bauarbeiter uns anpöbelten, mit uns handgreiflich wurden oder uns schlicht anboten, uns die Haare abzuschneiden oder über die Mauer zu werfen: „Geht doch rüber in den Osten, wenn's euch hier nicht gefällt. Der Spitzbart wird's euch schon besorgen".

Ostern 1968 eskalierte die Situation. Bild und BZ riefen unverhohlen zur Gewalt gegenüber Studenten und Gammlern im allgemeinen und der Person Rudi Dutschkes im besonderen auf. Durch diese Hetze angestiftet, schoß der Anstreicher Bachmann auf Rudi Dutschke und verletzte ihn lebensgefährlich. Uns war klar: Springer hat mitgeschossen. Der Zeichner, der in der BZ hetzte, hatte übrigens einschlägige Erfahrungen: Er hatte in den Dreißigern und Vierzigern ähnlich erfolgreich für den Stürmer, das berüchtigte NS-Rassehetzblatt, gearbeitet. In mehreren großen Städten wurde die Auslieferung der Drecksblätter gewaltsam verhindert. Lieferwagen der Bildzeitung brannten.

Beim Versuch, das Springerhochhaus in der Kochstraße zu stürmen, wurde ich zum zweiten Mal festgenommen. Protest und Widerstand wurden in Westberlin zum Dauerzustand. Auch unter den Studenten gab es nun einige, die verstanden, daß es sich nicht mehr um eine „Studentenrevolte" handelte, sondern um ein Aufbegehren der Jugend, die an den Grundpfeilern der erstarrten Gesellschaft rüttelte. Es ging um „Negermusik", freie Liebe, Dope und individuelle Freiheiten für den Einzelnen und natürlich gegen die Ausbeutung und Unterdrückung in Schulen, Universitäten und Betrieben. Der Feind bekam Namen: Kapitalismus, Imperialismus. Der große Rahmen, der alles zusammenhielt, war der verbrecherische Krieg in Vietnam nebst dem Kampf der diversen Befreiungsbewegungen in drei Kontinenten. In vielen Ländern der damaligen westlichen Welt gärte und brodelte es unter den Jugendlichen. Hierzulande kam noch etwas anderes, nicht weniger Wichtiges hinzu: „Traue keinem über Dreißig." Was keine Ausgeburt adoleszenter Arroganz darstellte, sondern Quintessenz der Frage war, die sich jeder Über-Dreißigjährige stellen lassen mußte: „Und was haben Sie vor 1945 gemacht?" Wir wurden wach.

Trotz aller Anfeindungen durch die Arbeiterschaft waren wir doch Teil von ihr. In unseren Stützpunkten verkehrten kaum Studenten, sondern Langhaarige, Bunte. Langhaarige Maurer, Zimmerleute, Mechaniker, Bäcker, Kraftfahrer. Die Wenigsten waren echte Gammler, also Aussteiger; Individuen, die heute, da der politische Überbau des Aussteigertums weggebrochen ist, nurmehr Penner sind. Zu den politischen Organisationen der Studenten wie dem SDS unterhielten wir eher pragmatische Beziehungen. Dort konnten wir unsere Flugblätter abziehen oder uns einen Rechtsanwalt vermitteln lassen. Und den einen oder anderen politischen Schulungskurs zogen wir uns auch rein.

Für die Studenten waren wir allerdings das Objekt der Begierde. Wir stellten das Proletariat dar, dieses nebulöse Ding, das schließlich die Revolution machen sollte. Natürlich unter Leitung bzw. Führung der Studenten. Für mich war der SDS schon Ende 1967 obsolet geworden, als die Kommune 1 mit abstrusen Begründungen rausgeschmissen wurde. In der K 1 waren die seltsamsten Leute versammelt. Ich war da etliche Male einer der zahlreichen Besucher. Die K 1, zwar überwiegend aus Studenten bestehend, war anders als alle anderen Formationen der Zeit. Sie war Taktgeber für die APO, sie war intelligent, witzig, unberechenbar. Und APO, Student oder nicht, das waren wir alle. Teufel, Kunzelmann ­ das waren unverwechselbare, echte Figuren. Aber der SDS bzw. dessen Führungskader, das sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Leute gewesen, die im Anschluß an ihre Kongresse bei Augstein oder Nannen zum Cocktail einkehrten, um sich vom liberal gesinnten Bildungsbürgertum hofieren zu lassen.

Natürlich wollten auch die Studenten an der allgemeinen Libertinage teilhaben. Das konnte manchmal ganz schön peinlich sein. Als „Vorzeigeprolet" besuchte ich also seltsame Arbeitskreise, z.B. einen, in dem parallel Marx und Freud gelesen wurden. Den dritten Band des Kapital fand ich ziemlich aufregend, obwohl die verquaste Sprache mir einige Mühe bereitete. Bunt wurde es schließlich mit Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Die Studenten faßten das offensichtlich als Anleitung zum Gruppensex auf. Warum auch immer. Nach anderthalbstündiger Diskussion wurde also zur Tat geschritten. Alles fummelte aneinander herum. Hier und da war ein blanker Busen zu sehen oder ein Stück Oberschenkel. Niemand traute sich, richtig zur Sache zu kommen. Es war grauenvoll. Ich verabredete mich mit einer Studentin zum Ficken, dann verließ ich die seltsame Veranstaltung.

In meinen eigenen Kreisen ging es anders ab. Wir Typen waren ausgemachte Chauvinisten, doch das wußten wir damals noch nicht. Aber wir waren wild und frei. Und das kam bei den Mädels offensichtlich gut an. Alles vögelte durcheinander. Es gab nur wenige stabile Beziehungen, an die ich mich erinnern kann. Mit unseren Kommunen und Wohngemeinschaften entstanden wirkliche Freiräume. Ob alle glücklich wurden, stand auf einem anderen Blatt.

Unsere Stützpunkte waren über die ganze Stadt verteilt. Das „unergründliche Obdach für Reisende" am Fasanenplatz, das „Zodiac", das „Black Corner", „Parabellum", „Meisengeige", „Mr. Go", der „Rote Punkt" und wie sie alle hießen. Einige Kneipen teilten wir mit einem anderen Publikum, z.B. die Weinwirtschaft „Leydicke", in der sich Frontstadt-Touristen und alkoholkranke Künstler mit billigem Obstwein die Kante gaben. Oder die „Feuchte Welle", eine Eckkneipe in der Wiener Straße im SO 36. Hierher kamen Freitagabend die Zimmerleute und Maurer direkt von der Arbeit, um ihre Lohntüten zu versaufen. Der Fußboden war mit Sägespänen bedeckt, was es etwas leichter machte, die Melange aus Kotze, Pisse, ausgeschlagenen Zähnen und sonstwas zu durchqueren. Angejahrte Hausfrauennutten hingen herum und versuchten, ihre verblühten Reize an den Mann zu bringen. Die Zimmerleute machten nach der fünften Lage ihre Hosengürtel auf, schlangen sie um den Handlauf am Tresen und soffen dann weiter, bis sie halbtot niedersanken. Immerhin noch durch den Gurt gehalten, der verhinderte, daß sie im Dreck des Fußbodens landeten.

Norbert Knofo Kröcher

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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