Ausgabe 6 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

„Abends um neun Uhr,

wenn ich mir den Kopf an die Wand schlage"

Suhrkamp bündelt Dieter Roth für Leser

Wenn der Suhrkamp Verlag jetzt behauptet, mit dem Auswahlband Da drinnen vor dem Auge Lyrik und Prosa von Dieter Roth erstmals „für Leser" aufzubereiten, so ist das nicht ganz richtig. Schon 1973 erschien in der Sammlung Luchterhand ein Taschenbuch mit „frühen Schriften und typischer Scheiße", ausgewählt und kommentiert von Oswald Wiener. Doch war dem Band damals so wenig Erfolg beschieden, daß er zwei Jahre später von Roth selbst vor dem Einstampfen bewahrt werden mußte. Mit einem Zusatzumschlag versehen wurde der Rest der Auflage in der edition hansjörg mayer vertrieben, in der Roth seine Künstlerbücher realisierte, bevor er seinen eigenen Verlag gründete.

Dieter Roth (1930-1998), der in seinem Leben mehr als 200 Bücher gemacht hat, ist dennoch bis heute ein literarischer Geheimtip geblieben. Das zu ändern sind die Bedingungen jetzt vielleicht günstiger als vor 30 Jahren. Denn mit der posthumen Teilnahme an der Documenta und einer großen in Basel, Köln und New York gezeigten Retrospektive ist Roth erst nach seinem Tod so richtig in die erste Liga der Gegenwartskunst aufgerückt ­ was zu Lebzeiten dieses Quertreibers, der dem Kunstmarkt zutiefst mißtraute und sich häufig mit Museumsleuten überwarf, allerdings auch kaum denkbar gewesen wäre. Und mit der Literaturszene hatte er schon rein gar nichts zu tun. Deren Protagonisten wie Grass und Walser verachtete er, ihre Bücher verarbeitete er zu „Literaturwürsten". Einzig die Autoren der Wiener Gruppe erkannten die Bedeutung des Schriftstellers Dieter Roth.

Roths Literatur ist freilich nicht zu trennen von seiner künstlerischen Produktion ­ und das macht den Versuch, seine Arbeiten in ein „normales" Buch zu packen, auch zu einem zwiespältigen Unterfangen. Denn Roth darf wohl als der innovativste Buchkünstler des 20. Jahrhunderts gelten. Gemessen an der schon rein quantitativ ausufernden Produktion dieses Berserkers, der Gedichte auf eingeschweißtes Hammelfleisch druckte, schredderte und faksimilierte, wild kopierte und kompilierte, verbreitet die heutige Buchkunst in all den Kleinverlagen und Minipressen nur gediegene Langeweile. Es gibt bei Roth keinen von seiner graphischen Umsetzung isolierbaren Text, und insofern tut die Suhrkamp-Präsentation seiner Literatur auch Gewalt an; der insgesamt besser gemachte Luchterhand-Band hatte seinerzeit mehr von der typographischen Vielfalt bewahrt. Zu begrüßen ist diese Edition trotzdem uneingeschränkt, denn diese widerborstige, genial geschmack- und auch konzessionslose Literatur ist ansonsten versteckt in Büchern, die entweder vergriffen sind oder mindestens 100 Euro kosten.

Roth, der im Bern der fünfziger Jahre eine solide Graphiker-Ausbildung erhielt, wurde dort auch mit der Konkreten Kunst und ihrem literarischen Vorkämpfer Eugen Gomringer konfrontiert und zunächst davon beeinflußt ­ um sich bald vehement gegen das Sterile, die „Imponierreinheit" dieser Kunst zur Wehr zu setzen, mit einer vehementen Gegenreaktion zu antworten. „Wenn du eingehst", so Roth später in einem Interview, „dann hilft diese konkrete Poesie und die Mondrian-Malerei, das hilft da alles nichts. Da gibt's nur noch Schmieren und Wüten, nicht?" Seine Kunst wie seine Literatur lassen sich begreifen als eine permanente Rebellion gegen die Formbeherrschung. Gegen das Vorhersehbare und das Maßvolle setzt der Alkoholiker Roth den Exzeß, die „elenden Formen", und nennt seine Gedichtsammlung ohne Koketterie Scheiße. Er malträtiert virtuos die klassische Sonett-Form, kalauert in Reimen und hat sich auch irgendwann mit den Druckfehlern abgefunden, die er einfach geschehen läßt ­ ja potenziert, indem er die Texte von Studenten setzen läßt, die des Deutschen nicht mächtig sind. So viel Nicht-beherrschen-Wollen der Form muß sein. Manisch suhlt sich diese Lyrik mit „eingebauter Ohrfeige für den guten Geschmack" (Jörg Drews) in Fäkalsprache, verstößt andauernd auf inhaltlicher wie auf formaler Ebene gegen sämtliche Regeln. Dabei ist Roth nie einfach witzig oder originell. Die Pointen werden immer so weit überdehnt, bis es nicht mehr auszuhalten ist.

Neben den Scheiße-Gedichten und der „Bastel-Novelle" wird auch Roths Tagebuch-Aufzeichnungen einiger Platz eingeräumt. Sie schonungslos zu nennen, käme wohl einer maßlosen Untertreibung gleich. Von „Weinwellengang" und „Banalentsetzlichkeit" ist da die Rede, von Suff und Kater, häufig ergeht er sich in Selbstbeschimpfungen: „Schon schüttet er n Bier weg, das Schwein n Bier weg." Im verkaterten Zustand schlägt aber auch die Stunde des unersättlichen Lesers Dieter Roth, der sogar so weit geht zu sagen: „Das ist das beste Kriterium für Literatur überhaupt, wenn du im Bett liegen kannst und ganz schaurig traurig bist und der Kater ist wie verrückt, und wenn du es dann lesen kannst und es hilft dir über zwei drei Stunden weg." Dieter Roths Lyrik und Prosa könnten da auch helfen.

Florian Neuner

* Dieter Roth: Da drinnen vor dem Auge. Lyrik und Prosa. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005, 10 Euro

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