Ausgabe 6 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Wer hat Angst vor der Geschlechtervielfalt?

Gegen das binäre Denken: Eine Ausstellung informiert über das Tabuthema Intersexualität

Die gesetzliche Regelung ist unflexibel und fordert eine eindeutige Festlegung. Das seit 1875 geltende Personenstandsgesetz sieht zwingend vor, daß im Geburtenbuch das Geschlecht eines neugeborenen Kindes eingetragen wird. Es gibt dafür genau zwei Möglichkeiten: männlich oder weiblich. Und sollten an der Zuordnung Zweifel aufkommen, sind die Mediziner gehalten, den Fall innerhalb weniger Tage zu klären. Die Frage nach dem Geschlecht eines Menschen wird als eine Frage von größter Dringlichkeit behandelt, die keinen Aufschub duldet. Und auch im alltäglichen Umgang stellt sie sich meist als eine der ersten: Haben wir es mit einer Frau oder einem Mann zu tun?

Unter 1500 bis 2000 Kindern aber befindet sich statistisch gesehen eines, dem das gängige Zwei-Geschlechter-System nicht gerecht wird. Das darf nicht sein, und deshalb dürfen diese seltenen Formen geschlechtlicher Vielfalt auch nicht in ihrer anscheinend provozierenden Uneindeutigkeit belassen werden. Über die Problematik ist ein starkes Tabu verhängt, es wird darüber nicht gesprochen und es fehlt ­ von medizinischer Terminologie abgesehen ­ auch an Begriffen: Manchmal ist, mit griechischer Mythologie bemäntelt, von Hermaphroditen die Rede, andere versuchen, das negativ besetzte „Zwitter" selbstbewußt-positiv zu wenden; neutral spricht man von Intersexualität. Die „Betroffe-nen" werden nicht selten über ihre Lage im unklaren gelassen oder gar angelogen. Viele Eltern solcher Kinder sind dann auch froh, wenn der Chirurg korrigierend eingreift, mit dem Messer Fakten schafft und so den Skandal beseitigt.

„Das äußere Genitale sollte, falls erforderlich, bis zum Abschluß des ersten Lebensjahres so gestaltet werden, daß es eindeutig männlich oder weiblich aussieht", meint etwa der Wolfsburger Kinderarzt Gernot H. G. Sinnecker und vertritt damit die heute noch immer mehrheitsfähige Lehrmeinung. Gesagt ist damit: Es kommt in erster Linie auf das Aussehen an, das um jeden Preis der männlichen oder weiblichen Norm angepaßt werden soll ­ angeblich zum Wohl des Kindes, das mit seiner abweichenden Geschlechtlichkeit sonst kein glückliches Leben führen könnte. Gefragt wird das Kind bei dieser so folgenreichen Entscheidung nicht; wenn ihm später seine Lage bewußt wird, muß es nicht nur mit seiner körperlichen Besonderheit zurechtkommen, sondern auch mit den Folgen oft willkürlicher medizinischer Maßnahmen. Denn von den Ärzten wird oft allzu pragmatisch entschieden, ist es doch häufig chirurgisch einfacher, einen weiblichen Anschein zu erzeugen.

„Intersexualität existiert nur solange, wie wir Menschen in zwei ´gegensätzliche' Kategorien teilen, unvermischbar, rein", formuliert die AG „1-0-1 intersex", die jetzt eine gleichnamige Ausstellung in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) als Plattform benutzt, um mit dem Thema offensiv an die Öffentlichkeit zu treten. Die Ausstellung trägt den provokanten Untertitel „Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung", und sie will auch mehr als bloß informieren und bezieht klar Position: So hat die AG eine Kampagne zur Abschaffung des amtlichen Geschlechtseintrags gestartet und plädiert gegen frühzeitige „geschlechtszuweisende Eingriffe". Hermaphroditen sollten sich vielmehr in ihrer Pubertät für oder gegen vereindeutigende Eingriffe entscheiden können. Es wäre – sicherlich ein fernes Ziel – ein Bewußtsein dafür zu schaffen, daß es mehr als zwei eindeutige Geschlechter gibt und daß abweichende Formen nicht per se etwas Schlimmes, zu Therapierendes sind. Die Ausstellungsmacher proklamieren denn auch: „Intersexualität ist keineswegs ein Spezialproblem weniger ´Betroffener', sondern muß im Zusammenhang von gesellschaftlichen Geschlechts- und Sexualitätsnormierungen gesehen werden."

In der NGBK-Ausstellung geht es nicht zuerst um Kunst. In langen Interviewpassagen kann man sich anhand einzelner Schicksale ein Bild davon machen, welche verheerenden Folgen die gängige Praxis im Umgang mit Intersexualität für ihre wehrlosen Opfer hat, denen oft nicht einmal im Erwachsenenalter die Wahrheit gesagt wird, die im Kindesalter Operationen über sich ergehen lassen müssen, ohne zu erfahren warum, denen dann etwa wegen angeblicher Krebsgefahr die Eierstöcke entfernt werden. „Sehr viele Intersexuelle", schreibt Barbara Jane Thomas, „erleben die Last, die ihnen ihre Mitmenschen durch ihre Reaktionen auferlegen, viel schwerwiegender als die Diagnose selbst. Das fängt schon beim Erstkontakt mit dem Arzt an. Wer Inter-sexualität als monströs empfindet, wird das auch kommunizieren."

Das Internet hat in den letzten Jahren stark dazu beigetragen, die Vereinzelung und Vereinsamung von Intersexuellen zu bekämpfen. Wer seinen Ärzten und den eigenen Eltern nicht trauen kann, findet Informationen und Selbsthilfegruppen. Unter den vielen Interviews der Ausstellung, die wahre Horrorgeschichten von Lüge und Verstümmelung sind, finden sich auch ermutigende Beispiele wie das von Mary, der/die ohne Zwang aufwachsen und sich in seiner/ihrer Geschlechtsidentität ausprobieren darf. Ein weiter Weg ist es aber zum Selbstbewußtsein des „Gender-Terroristen" und „geschlechtervariierenden" Künstlers Del LaGrace Volcano, der an der Verstärkung und nicht am „Auslöschen hermaphroditischer Spuren" an seinem Körper arbeitet.

Florian Neuner

* „1-0-1 [one 'o one] intersex. Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung", Ausstellung, Archiv und Veranstaltungsreihe noch bis zum 31. Juli in der NGBK, Oranienstraße 25, Kreuzberg, täglich 12 bis 18.30 Uhr, Eintritt frei, www.101intersex.de

Abb.: Ins A Kromminga: WC Sticker (2000)

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 6 - 2005 © scheinschlag 2005