Ausgabe 5 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Menschenfische

Der Himmel glänzt heute noch nicht

Herr Martineck geht zu Tisch. „Sein" Tisch ist heute besetzt – Nehmen wir den nächsten, bitteschön. Herr Martineck ist flexibel. Er braucht keinen eigenen Tisch, Hauptsache er sitzt in seiner Reihe. An der linken Fensterfront, den Rücken zur Wand der Essensausgabe, mit Aussicht ins Grüne. Südwärts, geradehinaus auf den Victoriapark. Herr Martineck wirft einen Blick auf das Essen, rückt das Tablett gerade und schaut in die Runde. Zwischen den Köpfen der anderen auf die Stadt. Soweit zu haben. Und das ist nicht wenig. Die Aussicht läßt nichts zu wünschen übrig, vom zehnten Stock des Rathauses.

Berlin ist eine flache Stadt, konstatiert Herr M. zum soundsovielten Male; zumal an einem schönen klaren Tag wie heute. Das macht, daß der Himmel noch weiter ist. Aber, wird er dadurch auch höher? Wieder die Befürchtung, der Himmel könnte über ihm einstürzen. Ein Gefühl so lange her, aus jungen Jahren, als ihm manches Mal die Decke auf den Kopf zu fallen drohte. Die Decke seiner Studentenbude.

Und er dreht den Teller noch einmal, nicht sicher von welcher Seite er die Mahlzeit angehen soll. Aber eigentlich will er Zeit gewinnen, sich nicht hastig ins Essen stürzen. Ruhig durchatmen; den Blick noch einmal schweifen lassen. Ins Blaue. Was macht eigentlich der Riß? Herr Martineck verdreht den Hals über die linke Schulter. Richtung Ost-Nord-Ost, dort wo die Stadt in die Hammada übergeht. Plattenschotter bis in den Horizont. Ach, da isser noch, etwas größer geworden, seit gestern. Könnte sein. Weiter vorn steigt eine Rauchfahne auf, vermutlich Kottbusser Tor. Daneben, in Neukölln, vernebeln gleich mehrere Schwaden das Blau. Na, die Brennpunkte eben, seufzt er; schließlich ist kein Wölkchen zu sehen und die Sonne steht hoch.

Jetzt ist es aber soweit, kalt werden braucht das Essen auch nicht, muntert HM sich auf. Greift er zum Besteck.

Kaut geradeaus. Mh, mh, mh. Hm! Frau Schwenkowsky setzt sich in seinen Parkblick. Üppiges Grün, mh, schlagen seine Zähne ins Fleisch. Bzw. beinahe, da ihm rechtzeitig der Zahnarzttermin zuvorkommt. Säbelt vorsichtshalber einen schmalen Streifen vom Steak. Ach, guck an, was will denn der Hartmann von ihr?! Herr Martineck schaut auffallend desinteressiert und guckt besser gleich wieder aus dem Fenster. Folgt der beruhigend grünen Trasse der schnurgeraden Gneisenaustraße. Zu guter Letzt gekrönt von diesem spitzen Kirchturm am Südstern. So was von spitz aber auch. Da ließ er schon so manch einen genüßlich aufspießen. Überhaupt, was will der Hartmann, der Aufsteiger, eigentlich von der Schwenkowsky. Jetzt krümelt der auch noch was von ihrer Bluse.

Was geht's mich an. Wer weiß, gesetzt mal den Fall, einfach nur so; sie und ich usw. wer weiß was die ­ also ob sie es auch draufhätte? Einfach so mir nichts dir nichts das Aquarium ins Klobecken kippen. So'ne Art hat die Schwenkowsky ja ­ wie meine Geschiedene.

Entspann dich, wie geht es der Stadt? Er schiebt das Tablett ein Stück weit von sich, stützt den Kopf auf eine Hand. Verdreht ihn wieder auf Ost-Nord-Ost. Zick Zack. Da steht es immer noch, dieses große W, zu den Treptowers hin. Steht nun Wochen schon, höher als die Türme. Fällt halt auf, in so'ner flachen Stadt, wischt sich Herr Martineck den Mund ab. Und fand die Idee damals schon Schwachsinn, den Rest der bepinselten Mauer, angeblich die längste Galerie der Welt, in die höchste zu verwandeln. Aufgerichtet die ganze Sache, Kunst hochkant, und fertig. Von wegen; schon waren tausend Meter Beton zusammengeknickt. Zick und Zack. Klar, hätte die Stadt das Land drum herum verkaufen können, leuchtete ihm als einziges Argument ein. Sicher ist nur, daß so was nicht ewig rumstehen kann. Und wozu in aller Welt sind denn die WehWehWehs eigentlich da. Entschlossen wagt Herr Martineck einen geraden, also Seitenblick zu Frau Schwenkowsky, die im angeregten Gespräch aufsieht. Ihr Blick, der freilich nicht ihm gilt, bleibt einen Moment, geht einen Moment länger an ihm vorbei. Seine Augen folgen der Richtung, und: Holla! Es tut sich doch was. Der Riß im Himmel ist größer geworden. Als sich Herr M. erneut zum Essen wendet, streift ihr Blick den seinen. Und er registriert Besorgnis. Würde mich auch beunruhigen, wer weiß, was da wieder alles reinkommt. Ist schließlich ganz schwarz dahinter. Aber Kollege Martineck kann, kaum merklich, ausatmen; schließlich arbeitet er nicht in der 3. Etage, in der Meldestelle: Abteilung mehr oder weniger legale Einreise. Er blickt wieder zurück. Der Riß vergrößert sich zusehends, wird zu einem Reißverschluß. Hinter dem es nun heller wird, fleischfarben schimmert. Ein rötlicher Punkt, eine Brustwarze, zeichnet sich ab. Der Verschluß öffnet sich weiter, kurz unter dem Bauchnabel, also einige hundert Meter über Marzahn, klemmt das Teil. War ja nicht anders zu erwarten. Aus einem knallroten Mund, der jeden Sonnenuntergang auf der anderen Seite verblassen lassen würde, tänzeln splitternackte Buchstaben einer Website. Schließlich purzelt DasProdukt heraus. Springballt über die eher flache Skyline ins All. Oder nach Königs Wusterhausen. Immer die gleichen Tricks, verzieht Herr Martineck Mund und Augenbrauen. Bedenkt auch seine Kollegin mit einem Blick bzw. deren Bluse, die in Bewegung gerät, von einem Lachen, das wohl einer Erleichterung in Sachen (K)Einreise geschuldet ist.

Was soll´s, der Himmel glänzt eben heute noch nicht, erhebt sich Herr Martineck mit dem Tablett vom Tisch. Neben dem Abstellwagen entsteht ein Gedränge. Er kann warten und schaut durch die andere Fensterfront. Der Würfelhaufen City West döst unter der Mittagssonne.

Doch der äußerste Rand des Horizontes kommt in Bewegung. Einige Linien oder Striche ziehen schwankend hoch, tasten in den Himmel. Leitern, die ausgefahren werden. Immer mehr. Unzählige, nun von allen Seiten, finden zügig zueinander. Bilden ein Netz, das aufwärts zieht.

Das ist doch einmal ein schöner Anblick, Herr Martineck lehnt entspannt gegen eine Säule:

Das GlobalNetwork breitet sich aus. Demokratisch in alle Richtungen. Steigt hoch und höher, dorthin, wo die Freiheit nur grenzenlos sein kann.

Orangene Pünktchen, auch rote sind darunter, wuseln ins Himmelsnetz hinauf. Einem Aquarianer wird es warm ums Herz, etwas feucht in den Augen sogar. Tausende Fischlein in der Luft. Abertausende wimmeln durch den meeresblauen Äther. Sicher im Netz.

Er kann die Eimerchen scheppern hören, die Bürstchen schrubben.

Ein leichter Druck an seiner Schulter: Wie geht´s den Fischen zu Hause? Gut?!

­ Bestens, Herr Kollege Hartmann. ­ Sagen Sie, Kollege Martineck, möchten Sie sich nicht mal das Aquarium in meinem Büro vornehmen? Das stinkt schon zum Himmel, meinte Vera neulich, also Frau Schwenkowsky.

Weit draußen beginnen die orangenen Wesen, die Centies oder amtlich korrekt: die WehWehWehs mit der Arbeit. Die EinCentWorldWideWorkers putzen den Himmel.

Ducke

* „Luftfischerei", Lesung mit Ducke am 21. Juni, 20.30 Uhr im Kaffee Burger

Collage: Knut Hildebrandt

 
 
 
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