Ausgabe 5 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Brotlos

Von Künstlern, die betteln, und Bettlern, die Kunst machen

MMan nehme Google, gebe „Betteln" und „Kunst" ein und man wird Hinweise auf mindestens 100 Kunstwerke finden, die das Betteln sozialkritisch thematisieren? Irrtum! Vielmehr landet man schnell auf der Website Hast du mal nen Euro?!?, auf der Künstler anonym aber „ehrlich und offen" betteln, da sie nicht die öffentliche Hand um Subventionen, die Wirtschaft um Sponsorengelder, die EU oder die Kirche um Zuwendungen anbetteln können und wollen. Künstler betteln im Namen der Kunst. Im April diesen Jahres fand am Stadttheater Bern eine Lesung zu diesem Thema mit dem Titel „Bettelbriefe von Dostojewskij bis Glauser" statt, um auf das Dilemma zwischen Broterwerb und brotloser Kunst aufmerksam zu machen. „Denn ewig ist die arme Kunst gezwungen, zu betteln von des Lebens Überfluß", resümierte schon Grillparzer. Hat er Recht?

Betteln bedeutet per definitionem, beliebige Dritte unter Hinweis auf die eigene Bedürftigkeit um Almosen zu bitten. Ein Almosen wiederum ist eine mildtätige Gabe ohne Gegenleistung. Und hier liegt der Hund begraben. Zwar sind die meisten Künstler finanzieller Unterstützung bedürftig, aber sie liefern zweifelsohne eine Gegenleistung, in Form von Bildern, Worten, was auch immer. Künstler sind Leistungsanbieter, sie sollten keine Bettelbriefe schreiben, „sondern Einladungen dazu, sein Geld auf schöne Weise auszugeben" (Gerhard Meister). Die Crux ist nun, daß die Rentabilität eines künstlerischen Produkts nie und nimmer mit denen der Wirtschaft vergleichbar, geschweige denn ökonomisch meßbar ist.

Genau dieser Rentabilitätsmaßstab könnte die Ursache für die erschwerte Google-Suche nach Werken sein, die sich mit dem Thema Betteln oder Bettler im weitesten Sinne beschäftigen. Kunst mit derart sozialkritischem Inhalt läuft schnell Gefahr, als unästhetisch wahrgenommen zu werden, will sie nicht beschönigen – mit der Folge, besonders schwer verkäuflich zu sein. Aber dennoch, es gibt und gab sie zu jeder Zeit, die Künstler, die sich der Versager, der Verschmähten, der Randgestalten der Gesellschaft angenommen haben: beginnend mit den mittelalterlichen Totentanzbildern – denn der Tod ist für alle, also auch für den Bettler da –, über die Breughelsche Genremalerei bis in die zeitgenössische Kunst.

Der 1940 in Berlin geborene Künstler Jochen Gerz hat sich gar zwei Mal mit diesem Thema auseinandergesetzt. Für sein Projekt Les mots de Paris (2000) ließ er an 20 touristischen Brennpunkten der französischen Hauptstadt troncs, die beim Roulette üblichen Trinkgeldkassen, in den Boden ein und plazierte Bettler daneben. Kunstbegeistertes oder eventheischendes Publikum auf der einen Seite und Personen „sans domicile fixe" – in Frankreich kurz und nicht ohne Abwertung s.d.f. genannt – auf der anderen begegnen hier nicht nur einander, sondern treten auch in Dialog. Denn die Bettler sind zuvor in ihrer Kommunikationsfähigkeit so weit geschult worden, daß sie den Betrachter ins Gespräch ziehen. Den Bettlern wird auf diese Art und Weise einerseits Aufmerksamkeit und Würde zuteil, andererseits soll durch das Projekt zum Ausdruck gebracht werden, daß das menschliche Dasein allein – und mitnichten nur menschliche Arbeitskraft – Geld wert ist. Vier Jahre später ließ Gerz das Publikum selbst in die Rolle des Bettelnden schlüpfen. Bei Your Chair bekamen Ausstellungsbesucher einen Klappstuhl ausgeliehen, ließen sich auf diesem bettelnd in einer Fußgängerzone nieder und erklärten sich damit einverstanden, für eine Minute beim Betteln gefilmt zu werden. Gefühle wie Scham und Minderwertigkeit waren dem „Mitspieler" garantiert und zwar potenziert durch die Reflexion mittels der Filmaufnahme.

Eigene Bettelerfahrung verarbeitete der slowakische Künstler Richard Fajnor in seiner Arbeit Poorperformance. Zwischen Oktober 1998 und Oktober 2000 begab er sich an verschiedene Plätze der Slowakei, um mit immer der gleichen Schale, dem immer gleichen Schild, in identischer Kleidung und Haltung zu betteln. Dabei ließ er nicht nur sich selbst in Bettlerpose fotografieren, sondern auch die Schale mit dem erbettelten Inhalt, die in einer Tabelle unter Angabe von Datum, Dauer der Sitzung sowie Stadt- und Straßennamen erfaßt wurde. Fajnor verzichtet in dieser Arbeit gänzlich auf eine kritische künstlerische Darstellung oder Auswertung. Vielmehr läßt er den Akt des Bettelns für sich selbst sprechen, er bekräftigt ihn lediglich durch das Festhalten in Bild, knappen Worten und Ziffern.

Mit einer ähnlichen Herangehensweise hatte Heinz Emigholz 1988 in einer Ausstellung der Berliner Galerie Zwinger für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Er hatte Bettlern vom Kurfürstendamm ihre Schilder abgekauft und präsentierte sie in Holzrahmen und perfekt geschnittenen Passepartouts. Der Verkaufspreis der Werke richtete sich nach der jeweiligen Textlänge. Emigholz bediente sich in seiner Darstellung äußerst erfolgreich der Strategie der Affirmation, indem er den „Arbeiten" der Bettler eine Bühne und einen pekuniären Wert verlieh.

Untrennbar mit dem Betteln verbunden ist die Obdachlosigkeit. Gemessen an der Zahl der Werke, die sich mit diesem Phänomen, genauer mit der Architektur der Obdachlosigkeit beschäftigen, scheint es bequemer darstellbar, weil nicht unmittelbar auf eine Person gerichtet, sondern lediglich auf einen Gegenstand aus Pappe oder Plastiktüten. Die Münchner Pinakothek der Moderne zeigte 2003 die Ausstellung Architektur der Obdachlosigkeit, entstanden auf Initiative der Münchner Stadtzeitung BISS, also unmittelbar mit diesem Schicksal Vertrauter. Sieben Fotografen hatten Wohnungslose und ihre Behausungen abgelichtet, und zwar in München genauso wie in Japan, Thailand, der Ukraine oder den USA. Die Szenen gleichen sich, mal zeigen sie, wie die Obdachlosen mit ihren Einkaufswagen durch die Stadt ziehen, sich auf dem bloßen Asphalt niederlassen oder in Gebilden aus blauen Mülltüten oder braunem Karton Schutz suchen. Obdachlosigkeit und Armut werden hier als weltweites Problem unserer modernen Gesellschaft gezeigt.

Nicht nur beobachten und dokumentieren will der japanische Künstler Tadashi Kawamata. Seit Mitte der achtziger Jahre betreibt er seine Field Works (Feldforschungen), indem er Brachen einer Stadt ausfindig macht und dort gewissermaßen in der Rolle eines Obdachlosen behelfsmäßige Unterkünfte errichtet, selbstverständlich aus dem herumliegenden Abfallmaterial, notdürftig zusammengehalten mit Klebestreifen oder Nägeln. Derart perfekt getarnt, haben sich Kawamatas Unterkünfte nahezu unbemerkt in aller Welt eingenistet. Dennoch bleiben sie nicht ohne Wirkung, legen sie doch den Finger in die Wunde, „denn jede Ruine oder Brache ist eine Scharte im Sozialgefüge einer Stadt, ihre temporären Bewohner sind Ausgeschlossene der Gesellschaft" (Karin Orchard). Im Rahmen der EXPO 2000 wurde der Künstler nach Hannover geladen, um seine Hütten an besonders unwirtlichen Stellen der Stadt aufzubauen und so vor einem drohenden Ungleichgewicht zwischen Mietwucher und Wohnungsbedarf zu warnen.

Spätestens mit diesem Kunstprojekt stolpert man über den weitverbreiteten Vorwurf an die Kunst, sie leiste der Mietenexplosion Vorschub, selbst wenn sie mit dem hehren Ziel, eben diese wie auch Armut und Obdachlosigkeit anzukreiden, angetreten ist. Kunst sei Vorreiter einer Gentrifizierung mit der Folge der Vertreibung Einkommensschwacher. Schmücken erst Kunstwerke den öffentlichen Raum, fordern schnell Interessengemeinschaften ihren Schutz, Ordnung und hartes Vorgehen gegen Beschmutzer wie Bettler und Obdachlose. Die gängige Behauptung: „Erst kommen die Künstler, dann die Bagger" verkürzt aber den Sachverhalt erheblich und spitzt über die Maßen zu. Zweifelsohne werten Kunstwerke ihre Umgebung auf, beleben zuziehende Künstler einen zuvor womöglich vergessenen wie verfallenen Teil einer Stadt. Doch sind nicht sie es, die mit Modernisierungs-, statt Erhaltungsmaßnahmen beginnen, Miet- in Eigentumswohnungen umwandeln und erst Recht nicht diejenigen, die am Ende die horrenden Mieten zahlen. Diesen Schuh muß sich Kunst, schon gar nicht eine sozialkritische, dann doch nicht anziehen.

Brigitte Baerlauch

 
 
 
Ausgabe 5 - 2005 © scheinschlag 2005