Ausgabe 5 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Die Fähigkeit zur Entmenschlichung ist nichts Unmenschliches

Der Filmemacher Peter Nestler hat ein Buch des schwedischen Psychoanalytikers Ludvig Igra übersetzt

Oft macht eine in Fachfragen verstrickte wissenschaftliche oder künstlerische Arbeit die zu Spezialisten Gewordenen blind für die grundlegenden Fragen und Aufgaben ihrer Disziplin. So dürfen Psychologie und Psychoanalyse nicht ausschließlich dazu dienen, ein von der gesetzten Norm abweichendes Verhalten zu erklären, um gleichzeitig die vielen, immer mehr Abweichenden auf neue Normen, die mehr denn je vom Wirtschaftssystem diktiert werden, auszurichten.

Ludvig Igras Buch ist ein persönliches, für jeden verständliches Buch, das wissenschaftlich scheinbar gesicherte Thesen genauso wie die davon abgeleiteten, medial propagierten Allgemeinplätze radikal in Frage stellt. Seine Grundfrage lautet: Woran liegt es, daß ­ vornehmlich unter den politisch-ideologischen Verhältnissen des Nationalsozialismus, aber auch im Verlauf heutiger gesellschaftlicher Entwicklungen (Kriege, Migration, soziale Einschnitte für einen Großteil der Bevölkerung) ­ Grausamkeit und Menschenverachtung auf breiter Basis die Oberhand gewinnen können?

Der Übersetzer Peter Nestler hat in seinem 2001/2002 gedrehten Dokumentarfilm Die Verwandlung des guten Nachbarn das Augenmerk von der manchmal fast entschuldigend gebrauchten These des industriellen Mordens stärker auf die persönliche Ebene – wer hilft, wer verrät? – gerichtet. In seinem Film rekonstruiert er mit Igra als Kommentator die Deportations- und Fluchtgeschichte des Sobibór-Überlebenden Thomas Toivi Blatt (Nur die Schatten bleiben, Aufbau-Verlag Berlin 2000). Blatt wurde als 15jähriger mit seiner Familie ins Vernichtungslager deportiert. Ein Schulfreund, Familienfreunde und Nachbarn – alle Bauern aus dem Schtetl Izbica – hatten die Familie verraten. Später nach dem Sobibór-Aufstand 1943, waren es ebenfalls polnische Bauern aus Nachbardörfern, die den geflohenen Toivi Blatt (seine Angehörigen waren im Lager umgebracht worden) in lebensentscheidenden Momenten vor den Verfolgern retteten.

Igras 2004 auf Deutsch erschienenes Buch liefert den psychoanalytischen, soziologischen, theologischen und auch aus der persönlichen Erfahrung des Autors gespeisten Hintergrund zu den in Peter Nestlers Film formulierten Thesen. Ludvig Igra wurde 1945 als Kind polnischer Widerstandskämpfer geboren und konnte selbst nur im Versteck und in der Emigration überleben. Seine im Buch vorgetragenen Einwände zielen auf diejenigen Versuche, den Nationalsozialismus zu erklären, die die Bezugnahme auf fortbestehende gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse versperren. Der Autor entkräftet beispielsweise das immer wieder zur Erklärung von neonazistischen Gewalttaten vorgebrachte, bildungsbürgerliche „Werteverlust"-Argument mit einer historischen Richtigstellung: „Die gebildete Elite hat zu der erstaunlichen Effektivität beigetragen, als das Vernichtungsprojekt erstmal in Gang gesetzt worden war. Sie sahen auch zu, daß dieses Projekt seine Energie beibehielt, bis der Krieg praktisch schon verloren war." Als ungeheuerliches Bild in diesem Zusammenhang bleibt der Goethe-/ Eckermann-Baum in Erinnerung, den die Erbauer des Konzentrationslagers Buchenwald als „Kulturdenkmal" auf der abgeholzten Fläche stehenließen.

Nach Igra liegen die Ursachen der millionenfachen Morde tief in der kulturellen Prägung menschlichen Empfindens begründet. Die Kernaussagen seines Buches lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Es gibt die Möglichkeit der Abspaltung eines Bereichs unseres Gefühlslebens, der Liebe und Anteilnahme. Der nationalsozialistische Täter kann beispielsweise ein liebevolles Familienleben führen und gleichzeitig eine ideologisch dazu bestimmte Personengruppe – die Juden – als vollkommen außerhalb dieses Gefühlsbereichs stehend betrachten und behandeln. 2. Nicht von Natur aus grausame Menschen begehen grausame Taten, sondern die Gewöhnung an eine gesellschaftlich akzeptierte Brutalität läßt Menschen nach und nach grausamer handeln. 3. Eine der furchtbarsten Erfahrungen vieler Überlebender des Holocaust ist die Tatsache, daß sie und ihre Familien nicht nur in anonymen Lagern, sondern oft im Nahkontakt, d.h. von guten Bekannten, Nachbarn – z.B. in der sogenannten Kristallnacht – verraten, geschlagen und mißhandelt wurden. 4. Die Fähigkeit zur Entmenschlichung, der sich die Nazi-Propaganda bediente (die Juden wurden zu unmenschlichen Kreaturen, zu Abfall erklärt), ist nichts Unmenschliches, schreibt Igra, sondern eine höchst unheimliche, aber zutiefst menschliche Fähigkeit, ein Potential, das in jedem Einzelnen vorhanden ist. 5. Anteilnahme und Mitgefühl für den anderen sind vorkulturelle, vorbegriffliche Gefühle, d.h.: Sie wirken spontan, ohne vorheriges gedankliches Abwägen, während Grausamkeit immer den Gedanken und die Ideologie benötigt.

In der Argumentation des Autors werden die Entscheidungsmöglichkeiten des Einzelnen weder zu gesellschaftspolitisch noch zu individualpsychologisch vorbestimmten verengt. Igra betont, daß ­ trotz der „Mehrheit der Menschen, die unter bestimmten sozialen Bedingungen und Gruppenverhältnissen ,autoritäre Persönlichkeitsstrukturen' aufweist" ­ jeder Einzelne immer wieder die Möglichkeit hat, sich anders zu entscheiden, notfalls gegen die Gesetze zu handeln, Verfolgten zu helfen anstatt selbst zum Verfolger zu werden.

Auch das Festschreiben von gewalttätigen Gefühlen in Kindheit und Familie sieht Igra wesentlich differenzierter und weniger pessimistisch als viele seiner Fachkollegen. Mit Melanie Klein korrigiert er das Freudsche Entwicklungsphasenmodell in Richtung einer Gleichzeitigkeit unterschiedlicher innerer Haltungen ­ der paranoid-schizophrenen (Sorge um sich) und der integrativ depressiven (Sorge um den anderen) ­ bei jedem Menschen und in jedem Lebensabschnitt. Narzißmus, Projektion und Analsadismus weist er eindeutig als „Triade der Destruktivität" aus, die in der avancierten Symbolisierungsfähigkeit des Menschen begründet liegt: „Lebensspendende Symbole werden in tyrannische Ikonen verwandelt. Die Vorstellungen des Menschen von der Wirklichkeit werden so aufgefaßt, als hätten sie höhere Würde als die Wirklichkeit selbst".

In ihrer Tragweite geben uns Igras Überlegungen eine Richtung vor, wie die Prämissen heutiger Emanzipationspolitik, heutiger Ideologie-/Bilderproduktion und -Rezeption dringend zu überdenken wären. Seine Arbeit wurde abrupt beendet. Ludvig Igra ist im Mai 2003 im Alter von nur 57 Jahren verstorben. Seine Schriften sind in Deutschland noch wenig bekannt.

Stefan Hayn

* Ludvig Igra: Die dünne Haut zwischen Fürsorge und Grausamkeit, IATROS Verlag, Nierstein 2004. 16 Euro

 
 
 
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