Ausgabe 5 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

„Progressiv, dynamisch, mit Phantasie ­ aber sachlich"

Die Volksmusik des Kraudn Sepp

Gleich zu Beginn möchte ich ausrufen: Lest unbedingt noch den tollen Text von Franz Dobler, den informativsten CD-Begleittext, den ich seit langem gesehen habe und dem somit nicht mehr allzuviel hinzuzufügen ist.
(www.franzdobler.de/artikel/kraudn_sepp.htm)

Die vor wenigen Tagen bei Trikont erschienene CD Sonntag gibt neben einigen Video-Schmankerln eine Übersicht der gesammelten Schallplattenaufnahmen des Kraudn Sepp, einem Volksmusiker aus Bayern, gestorben 1977 in Bad Tölz. Er singt darauf folk-verdächtige Lieder, spielt die Zither dazu wie einst Woody Guthrie die Western-Gitarre. Deutsche Volksmusik ist ja per se nicht mehr unverdächtig. Jede andere Musikgattung scheint positiver besetzt. Verdächtig der bierseligen, nationalkonservativen, chauvinistischen Inhalte ist das Gros der auf Tonträger veröffentlichten Volksmusik ­ und man sieht zugleich ein Bergmassiv von Kitschwelt vor seinen Augen emporsteigen. Es ist schwer, die latente Angst vor süddeutschen Trachtenträgern zu verdrängen und sich dagegen den reinen Wilhelm Tell vorzustellen, ein Idol der Jugend, direkt der Volksmusik-Szene entsprungen. Dies hätte der Kraudn Sepp unter anderen Voraussetzungen bestimmt werden können. Jugendliche wandern aber nicht ­ wie der Sepp, der nie einen Plattenspieler hatte ­ mit Instrumenten von Dorf zu Dorf und bringen sich Lieder bei, sie kaufen Schallplatten und ziehen Songs aus dem Netz. Lagerfeuerplatten in der Qualität ­ also mit politisch relevanten, lebensnahen Texten ­, wie sie die amerikanische Folk- Sängerin Michelle Shocked (The Texas Campfire Tapes, Polygram 1986) veröffentlicht hat, bekommt man weltweit selten zu hören, ganz selten im Supermarkt zu kaufen. Eine vergleichbare Veröffentlichung aus Deutschland ist vielleicht Franz Josef Degenhardts Live-Platte (Die Wallfahrt zum Big Zeppelin, Polydor 1971). Wie es Degenhardt im Song „Progressiv, dynamisch, mit Phantasie ­ aber sachlich" schon ironisch andeutet, ist aber selbst der Protestsong, das Arbeiterlied, also die politische Volksmusik nicht vor der Erstarrung in Klischees sicher. Und so eine klassische Independent-Platte wie die vom Kraudn Sepp kann wirklich wichtig und schön klingen, wenn man gerade auf dem Mai-Fest zu viel Soundmüll, verwässerten Reggae-, Ska-, oder Punk-Kitsch gehört hat, einem die „progressiven" Ideen von Kante oder Tocotronic einfach zu barock vorkommen. Als Anspieltip empfehle ich: „Du hast keinen Dunst vom Schützengraben", ein sachlich argumentierendes Antikriegslied.

Jörg Gruneberg

* Kraudn Sepp: Sonntag. 2 CDs. Trikont 2005, (Vertrieb Indigo)

Foto: Promo

 
 
 
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