Ausgabe 5 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Bravo-Hefte für die Wissenschaft

Zu Besuch in Kreuzbergs „Archiv der Jugendkulturen"

Alle Menschen, die gerne etwas sammeln, müssen zwecks Übersicht irgendwann entscheiden, was genau sie überhaupt aufheben wollen. Modelleisenbahnsammler können sich auf ihre Lieblingsmarke konzentrieren, und Briefmarkenfans können sogar „abgeschlossene Gebiete" wählen – dann wissen oder hoffen sie, daß irgendwann das Lebenssammelwerk beendet sein wird. Doch was, wenn die Leidenschaft fürs Sammeln und Auswerten etwas betrifft, was zuerst gar nicht genau beschrieben oder festgelegt werden kann? Am besten gar nicht damit anfangen – ein guter Ratschlag für einen „Messie" vielleicht, aber für eine wissenschaftliche Einrichtung?

An der Grenze zwischen Kreuzberg und Tempelhof, am Flughafen, befindet sich das Archiv der Jugendkulturen – aber was macht überhaupt eine Jugendkultur aus? Christian Schmidt, seit langem im Archiv ehrenamtlich beschäftigt, ist das Problem bewußt: „,Jugendkultur' ist als Begriff genauso problematisch wie ,Subkultur' oder ,Popkultur', beides kann man relativ breit fassen. Das Sammelgebiet tendiert zu ,jugendliche Szenen'", erklärt er. Mit 16 brachte Schmidt sein erstes Zine raus – und ist immer noch dabei. Gerade schreibt der Student an der Freien Universität an seiner Magisterarbeit über frühe deutsche Fanzines.

Die oft kopierten Heftchen machen einen Großteil der Sammlung des Archivs aus ­ allein über 3000 Stück aus der deutschen Punkszene ab 1977. Dazu kommen noch 1500 aus anderen Ländern, darunter einige sogenannte „Perzines" oder „Egozines", die hauptsächlich in den USA erscheinen. Darin schreiben die Zinemacher hauptsächlich über sich selbst und ihren Alltag ­ ein Vorläufer der Blogszene im Internet, die dennoch nicht von den neuen Medien verdrängt wird.

Außerdem gibt es eine Menge Skin- und Oi!-zines, links und rechts, und natürlich auch unpolitische. Aber selbst dabei wird es schwer, sie alle „korrekt" einzuordnen. Da die Grenzen zwischen Punk, Skin und Oi! ­ und insbesondere bei Oi! ­ immer verwischt waren (der bekannteste Vertreter der Oi!-Szene Großbritanniens der späten Siebziger wechselte die Seiten vom Trotzkismus zum Sprachrohr der extremen Rechten), wissen sogar Experten solcher Szenen nicht so genau, wo alles hingehört.

Ein solcher Experte ist der Journalist Klaus Farin, der mehrere Bücher zu Skinheads und anderen Jugendbewegungen (die Böhsen Onkels, die Jesusfreaks, die Gothik- und Darkwaveszene ...) verfaßt hat. Geboren 1958 in Gelsenkirchen und seit 1980 wohnhaft in Berlin, hat Farin 1997 das Archiv und den damit engverwandten Verlag Jugendkulturen gegründet. Als 15jähriger Schüler veröffentlichte er zum ersten Mal, und daher muß es nicht überraschen, daß auch Schülerzeitungen im Archiv gesammelt und ausgewertet werden. Darüberhinaus werden Videos und Dokumentarfilme, CDs und Schallplatten sowie Darkwave- und Metal-, sogar Science-Fiction-Zeitschriften archiviert.

Aber es wäre falsch zu denken, daß das Archiv sich nur auf Szenen konzentriert, die von vielen Menschen (richtiger- oder fälschlicherweise) verdächtigt werden, „rechtslastig" zu sein: Unter dem Tisch in der Bibliothek befindet sich ein riesiger Stapel des Arbeiterkampf, der Zeitung des Kommunistischen Bundes, dessen wohl prominentestes Ex-Mitglied Umweltminister Jürgen Trittin ist.

Am Tisch sitzt Bibliothekarin Antje Pfeffer vor einem Stapel Bravo und gibt die Inhaltsangaben in den PC ein. Die deutsche Jugendzeitschrift schlechthin, die heutzutage etwas verstaubt daherkommt, feiert bald ihren 50. Geburtstag, und das Archiv bereitet eine Fachtagung samt Buch und Wanderausstellung vor. Nach und nach werden alle Ausgaben angeschafft ­ zum Beispiel über die Internet-Auktionsseite ebay, mittels derer das Archiv auch doppelt vorhandene Exemplare verkauft.

In dem kleinen Raum finden die hauptsächlich studentischen Nutzer nicht nur Klassiker der Jugendforschung oder Eigenpublikationen, so das zweimal jährlich erscheinende Journal der Jugendkulturen, sondern alles mögliche über „Jugendthemen" wie Graffiti, Sport, Zensur, Musik, Medien, Rassismus oder Comics. Als Quelle für Seminararbeiten angehender Pädagogen oder Forscher der Kulturwissenschaften ist die Bibliothek beliebt, aber ein Studentenausweis ist keineswegs notwendig, um das Archiv zu benutzen. Jeder, der möchte, kann zwischen 10 und 18 Uhr vorbeischauen ­ auch wenn ein Anruf vorher ratsam ist. Die Bücher, die teilweise nicht zum Archiv gehören, sondern nur Leihgaben sind, können in den Räumen gelesen werden, oder für 50 Cent pro Band über das Wochenende gegen Vorlage des Personalausweises ausgeliehen werden. Über das Internet können die Bestände der Bibliothek und des Archivs zum Teil recherchiert werden.

Nicht nur Bücher und Zeitschriften aller Art werden im Archiv aufgenommen, es werden auch aktuelle Zeitungen und einzelne Zeitschriften ausgewertet. Von der Süddeutschen Zeitung zur Jungen Freiheit oder dem Tätowiermagazin ­ einzelne Artikel zu bestimmten Jugendthemen schneidet man aus, um sie in einem Ordner zu archivieren. Vorerst landen sie aber auf einem Stapel ­ und es gibt viele Stapel hier. Denn ohne feste Finanzierungsquellen benötigt die Einrichtung immer wieder Freiwillige, die für einige Stunden in der Woche kommen, um das Archiv weiterzuentwickeln. Über Mundpropaganda kommen Pakete mit Büchern und Zines regelmäßig an und müssen allesamt ausgewertet, archiviert und in die Bestände aufgenommen werden. Antje Pfeffer würde sich deshalb über Anrufe freuen.

Vor allem ist das Archiv ein Ort, wo man sich ausgiebig informieren kann ­ zu Studienzwecken oder auch aus reiner Neugier oder ­ für reifere Jahrgänge ­ aus Nostalgie. Die nächste Veröffentlichung aus dem Verlag Jugendkulturen wird sich mit Flyerkultur befassen und soll im Juni erscheinen.

Matthew Heaney

* Das Archiv für Jugendkulturen befindet sich in der Fidicinstraße 3, Kreuzberg, Informationen unter www.jugendkulturen.de oder fon: 6942934.

 
 
 
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