Ausgabe 4 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Wissen und Besitz teilen

Leihnetzwerk statt eBay

Online-Auktionshäuser wie eBay haben sich mittlerweile zu den erfolgreichsten kommerziellen Angeboten im World Wide Web gemausert. Kurierdienste liefern nahezu alles bis an die Wohnungstür. Man könnte meinen, das Internet ließe die Menschen vor ihren Rechnern seelisch und finanziell verarmen. Wie das Netz helfen kann, Menschen miteinander zu verbinden, Wissen und Besitz zu teilen, beweist seit einem Jahr das Leihnetzwerk. Wer Bü-cher, Filme, Musik oder Geräte nicht gleich kaufen möchte, kann sie sich auch leihen. Wer nicht weiß, wohin mit all den Videos, Zeitschriften und DVDs, kann sie Freunden oder Menschen in der eigenen Umgebung verborgen. Die Koordination erfolgt über das Internet, die Übergabe in der Offline-Welt. In Zeiten von kostenpflichtigen und schlecht ausgestatteten Bibliotheken entwickelt sich dieses Netzwerk zu einer echten Alternative.

Vor einem Jahr kam dem Berliner Kurt Jansson der zündende Gedanke. „Da ich mich schon lange für freie Software interessiere, war ich schon damals auf der Mailingliste von Oekonux, einem Projekt, das untersucht, wie sich freie Software auf die Wirtschaft auswirken kann. Darüber habe ich von einer amerikanischen Software erfahren, die von unabhängigen Archiven und kleinen Bibliotheken genutzt wird, um Material auszutauschen", erzählt Jansson. Das war der Startschuß für das Berliner Leihnetzwerk. Jansson machte sich an die Arbeit und setzte die Seite leihnetzwerk.de auf. Wer etwas verborgen oder entleihen will, kann sich einfach ein Benutzerkonto anlegen. Einmal eingeloggt, kann man bequem nach Zeitschriften, Büchern, Videos oder CDs stöbern oder selbst Sachen einstellen, die man anderen gern zugänglich machen würde.

Das Angebot ändert sich ständig. Die Rubrik „Zeige Neues" listet alle kürzlich dazugekommenen Artikel auf. Auch eine regionale Suche ist möglich. Die Anzeige der Entfernung zum Besitzer des Gegenstandes ist im Grunde die wichtigste Funktion der Leihnetzwerk-Seite. Ab einer bestimmten Größenordnung wäre es nicht mehr praktikabel, alle Besitzer einer CD per Mail zu fragen, wer von ihnen am nächsten wohnt. Die gespeicherten Adressen dienen nur der lokalen Suche und dem Austausch. Die angegebenen Mail-Adressen bleiben im internen Netz und sind nicht für Spam-Roboter lesbar.

Wer seinen Wohnort nur ungern im Internet veröffentlicht, kann auch einen Treffpunkt angeben: den eigenen Arbeitsplatz, ein Café, ein Restaurant oder einen Klub ­ es eignet sich jeder Ort, an dem man sich gut unterhalten kann. Schließlich möchte man doch wissen, wem man seine Sachen borgt. Manche Dinge würde man zwar verleihen, aber nicht unbedingt an jeden. Auch solche Fälle werden im Leihnetzwerk berücksichtigt. Dafür wurde ein Feld für Besprechungen, Kommentare und Bewertungen eingerichtet, in das man eingeben kann, wenn man Gegenstände nur an Bekannte oder Personen mit guten Bewertungen verleihen möchte oder wenn man eine Leihgabe beschädigt zurückbekommen hat.

Das Risiko für Leihnetzwerk-Nutzer ist verschwindend gering. Trotzdem macht Wiedersehen Freude. Um sicherzustellen, daß man seine Sachen auch innerhalb der vereinbarten Frist zurückerhält, kann man ein Ausleihformular verwenden, das auf der Website zum Download bereitsteht. So können alle entliehenen Artikel quittiert werden. Wer besorgt um sein Hab und Gut ist, kann sich auch den Personalausweis der entleihenden Person zeigen lassen oder ein Pfand verlangen. Wer sich beim Verleihen an bestimmte Personen nicht wohlfühlt, kann im Gegensatz zu Internet-Auktionshäusern oder Online-Shops zu nichts verpflichtet werden, beruht das Leihnetzwerk doch auf Freiwilligkeit.

Wie genau man einen Verleih regelt, ist Jansson egal. Er möchte mit dem Leihnetzwerk nur eine Grundlage schaffen, um Dinge zu teilen, miteinander in Kontakt zu kommen, sich zu vernetzen und Vertrauen zu fördern. „Nur Geld sollte keine Rolle spielen. Es wäre schade, wenn so eine Plattform zu einem Online-Marktplatz verkommen würde", meint Jansson. Damit fügt sich das Network ein in eine Reihe ähnlicher horizontal organisierter Projekte. Initiativen wie Freifunk.net, der Berliner Büchertisch, Wikipedia oder allesumsonst.de verfolgen ähnliche Ziele.

Jens Steiner

 
 
 
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