Ausgabe 4 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Multikulti ist gerettet

Bürgergipfel in Neukölln

Verslumung, PISA-Studie, Ehrenmorde, terroristische Umtriebe, Integrationsverweigerung – das Projekt Multikulti ist gescheitert. Nur einige wenige, als Gutmenschen Belächelte glauben noch an das friedliche, inspirierende und unserer globalisierten Welt angemessene Miteinander verschiedener Ethnien, Religionen und Kulturen. Alle anderen zitieren Schreckensmeldungen längst nicht mehr nur konservativer Zeitungen und betonen, wie naiv man doch gewesen sei, als man noch glaubte, die Probleme seien nur Symptome einer Kinderkrankheit des unfreiwilligen Einwanderungsstaats Deutschland. Als Beispiel für die katastrophale Entwicklung darf selbst überregional immer wieder Neukölln herhalten, wo türkische Männer ihre unzüchtigen Schwestern ermorden, der Drogenhandel fest in arabischer und afrikanischer Hand ist und die Ausländer keine Arbeit finden, weil sie noch nicht einmal die deutsche Sprache lernen wollen. Neukölln: die Bronx Berlins!

Doch jetzt gehen die Neuköllner in die Offensive. Als am 19. April im Rahmen der Reihe „Einwanderungsstadt Berlin" der Senatsbeauftrage für Integration und Migration, Günter Piening, die in Gründung befindliche Bürgerstiftung Neukölln und Radio Multikulti engagierte Bürger zu einem offenen Forum unter dem Titel „Potenziale, Probleme und Perspektiven eines Einwanderungsbezirks" einluden, strömten die Neuköllner in Scharen in die Werkstatt der Kulturen: Deutsche, Türken, Griechen, Rentner, Kinder, Punks, Ärzte, Lehrer, Bezirksamtsmitarbeiter, Aktive in Flüchtlingsinitiativen, Geschäftsleute und natürlich Quartiersmanager.

Der vierstündige Abend begann mit vehement beklatschten ­ einem Motivationstraining nachempfundenen ­ Reden. Piening sprach viel von „Teamarbeit", „Miteinander-ins-Gespräch-Kommen", „Zusammenführung der Kompetenzen". Bürgermeister Heinz Buschkowsky freute sich über die vielen bekannten Gesichter im Publikum, die „die Seele und den Kern des Bezirkes" ausmachen, und forderte, die multiethnische Zusammensetzung und kulturelle Vielfalt als Potential zu begreifen. Kurt Anschütz von der Bürgerstiftung versprach, an diesem Abend würden Lösungen erarbeitet, damit Neukölln, heute vielleicht noch Problembezirk, schon in fünf Jahren Innovationsbezirk werden könne.

Derart angeheizt begannen die ca. 300 Neuköllner an den dreizehn Arbeitstischen zu den Themen Kinder und Jugendliche, Frauen und Familie, Älterwerden, Arbeit, Wohnumfeld, Wirtschaft, Gesundheit, Kultur, Sport und Freizeit, Flüchtlinge und Sprachenerwerb mit dem Planspiel „Ich bastel mir meinen Idealkiez". Natürlich wurde ­ nachdem mehr oder weniger Freiwillige einen Button mit „Moderator/in", „Präsentator/in" und „Schreiber/in" an den Pullover geklebt bekommen hatten ­ als erstes die Problemspalte auf den bereitgelegten riesigen Papierbögen vollgekritzelt. Doch schon beim Zusammentragen bereits vorhandener Initiativen zur Verbesserung der Lage stieg die Stimmung.

Die Mitarbeitenden hatten sichtlich Spaß, in dem großen Saal bei einem fast unerträglichen Lärmpegel die Renaissance der Multikulti-Gesellschaft auszurufen, ohne auf Parteiinteressen, finanzielle Sachzwänge oder bürokratische Hemmnisse Rücksicht nehmen zu müssen. Natürlich geht es dabei ganz basisdemokratisch vonstatten: Am Tisch „Kultur" wird mit Handzeichen abgestimmt, ob man lieber über Kunst oder Alltagskultur sprechen möchte; am Tisch „Wohnumfeld" werden fleißig Vorschläge wie interkulturelle Feldgottesdienste für Mensch und Tier, Feinstaubmessungen und die Umwandlung des Flughafens Tempelhof in eine Grünanlage notiert; am Tisch „Gesundheit" steht ein Klinikleiter Rede und Antwort, ob denn auch genügend Dolmetscher an seinem Arbeitsplatz tätig sind; am Tisch „Sport" träumt man von niedrigschwelligen, interkulturellen Sportkursen für alle; am Tisch „Wirtschaft" referiert ein Anzugträger Statistiken zur Neuköllner Wirtschaftslage; am Tisch „Älterwerden" will man wieder eine Kooperation deutscher und türkischer Senioren aus der Taufe heben; und der Tisch „Flüchtlinge" fordert gar die Amnestie für illegalisierte Ausländer in Deutschland.

Bei der Endpräsentation, moderiert von Multikulti-Mitarbeitern, wird schnell deutlich, daß fast alle Tische ähnliche Lösungsstrategien erarbeitet haben: Zunächst einmal müssen die bereits existierenden sozialen, politischen und integrativen Initiativen vernetzt werden ­ was auch prompt angegangen wird. Und natürlich muß man endlich mit den Migranten zusammenkommen, die an diesem Abend schon wie die Vorboten einer seligen Zukunft behandelt werden. Daß viele von ihnen noch Deutsch lernen müssen, läßt sich ja wohl bewerkstelligen ­ der bescheiden vorgebrachte Vorschlag eines Teilnehmers am Workshop „Wohnumfeld", man könne vielleicht ja auch Türkischkurse für Deutsche anbieten, landet allerdings nicht auf der Liste der Lösungsansätze.

Am Ende darf Piening sich noch einmal freuen, daß der Anfang nun gemacht sei, daß die Anregungen nicht verloren gehen, sondern bald in einer umfassenden Dokumentation veröffentlicht werden, daß dieser „Bürgergipfel Neukölln" die Zeichen der Zeit erkannt hat: Partizipation der Minderheiten, Vernetzung der Kompetenzen, ein neues Leitbild. Eigentlich haben wir es ja schon immer gewußt: Neukölln ist längst ein Innovationsbezirk!

Susann Sax

 
 
 
Ausgabe 4 - 2005 © scheinschlag 2005