Ausgabe 4 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

ditte & menschenkind

Hüben und drüben

Ditte macht rüber. Haut einfach ab. Verläßt ihren durch diktatorische Machthaber gestempelten und vom Klassenfeind immer falsch ausgesprochenen Ortsteil des vereinten Berlins. Die verpfeift sich. Nach Neukölln. Das treibt so einen wie Menschenkind zur Flasche, und wie er in seiner Kiezkneipe, der eigenen Küche, an der Flasche suckelt und Ditte keine Träne nachweint, fällt es ihm wie Schuppen aus dem Haupthaar. Nur sind all diese ihm bekannten Schmerzen, das Reißen in den Gliedern, das Schütteln des Kopfes und das Ziehen durchs Gemüt Phantomschmerzen und das Verschwinden eines ihm vertrauten Menschen nicht mehr definitiv genug – zum Rübermachen gehörte nun mal, daß man sich nicht wieder sehen konnte, jedenfalls nicht, bevor man das Rentenalter erreicht hatte. Das kann Ditte haben. Senior zu werden, ist nicht schwer, aber bitte sehr. Menschenkind öffnet das nächste Bier und schaut auf die Uhr. Schon wieder immer noch Fümpf vor Älwe/Halbzwölwe oder Zwölf Uhr mittags. Menschenkind nostalgisiert bereits, ach, wie es damals war, als er noch auf Dittes ehemaligem Balkon stand und versonnen den Mond betrachtete und über die Bedeutung des „Deutschen Krachers" nachdachte! Und als mit einem Mal Punkt zwölf die „Deutschen Kracher" explodierten! So eine unscheinbare Packung auf dem Balkontischchen!

Es wird nie wieder so sein.

Reisefreiheit schön und gut. Dafür sind wir ja auf die Straße gegangen, na ja. Aber wieso ausgerechnet jetzt gerade die Karl-Marx-Straße? Beim zweiten Blick auf seine Uhr klingelt es, beziehungsweise es piept. Er hat doch wohl selbst den Kurzzeitwecker eingestellt. Schon wieder piept es oder ist es wirklich die Klingel? Erst einmal hinter der Gardine die Lage auf der Straße sondieren. Was macht denn der LKW vor seiner Tür? Scheiße! Ditte zieht ja heute um! Wie peinlich! Jetzt wollen die hier wohl die versprochenen Bananenkisten und Umzugskartons abholen ­ nee, geht gerade nicht. Die sind alle noch nicht ausgepackt und stehen seit zirka einem halben Jahr im Keller. Im Keller des schönen Hauses, in dem Menschenkind mit seiner Bedarfsgemeinschaft derzeit logiert.

Glücklicherweise stellt sich der LKW quer. BSR im Einsatz, ohne Ditte. Das Telefon! Menschenkind kann ja sehr harthörig sein, aber das Telefon erreicht noch immer seinen Gehörgang, der reflexartig zum Hirn durchstellt. Es ist getan noch eh gedacht, und er hat den Hörer in der Hand und haucht: „Hai!" Mit solcher Nonchalance hätte er in diesem Augenblick nicht kommen sollen!

„Wo bleiben die Bananenkisten? Du Bananenfresser mußt doch Berge davon in deinem Keller horten. Und damit du endlich weißt, warum ich nach Neukölln ziehe und nicht in meinem trauten Pankow bleibe: Ich kann das krampfhafte Kampflächeln des Mittelstandes nicht mehr ertragen. Wenn sich der Bauch der zugezogenen Gattin wölbt nach allen möglichen Versuchen, ruft der zugezogene Gatte dem zugezogenen Nachbarn zu, daß es nun doch etwas wird mit dem Projekt Kind. Da sind mir die Neuköllner doch lieber, wenn sie vermummt hinter ihrem Eminem in Pampers her fluchen. Und außerdem bin ich ja nun ganz allein hier. Sind ja alle weggezogen. Außerdem und überhaupt, du wirst schon sehen, wo der Bär steppt. Ich ziehe in den Süden.

Aus dem Norden in den Süden, eine altersgerechte Richtung, du Affe. Der Baum wurzelt tiefer, der sich nicht zum Himmel entfalten kann. Das ist dein Problem. Rück also die Bananenkisten raus!"

Menschenkind verschlägt's die Sprache. Es folgt eine Denkpause, denkt er, weil er augenblicklich nichts denkt. Aber dann denkt er doch, wieviel Flaschen habe ich eigentlich noch in der Kiste?

„Naja", ruft er dann zurück, „versteh schon, also das mit den Kisten, ähem, wird schon, und Neukölln, ja, äh, warum eigentlich nich, wird schon alles und so, gut, vielleicht komm ich mal rüber, oder?" Eigentlich wollte er ja Ditte helfen, hat er wenigstens gesagt, aber nicht wirklich, nicht wahr? Er muß über so vieles nachdenken. „Das mit den Bananenkisten ist alles nur eine Frage der Logistik." Ditte faucht am anderen Ende: „Echt! Du bist voll konkret echt 'ne Flasche, Alter!"

Brigitte Struzyk/Dieter Kerschek

 
 
 
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