Ausgabe 3 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Kult und Ware

Collage: Steffen Schuhmann

Wie üblich am 15. Februar fand auch in diesem Jahr eine seltsame Feier auf der Pazifikinsel Tanna (Neue Hebriden) statt. Scharen von Einwohnern versammelten sich in dem Dorf Sulphur Bay, um an einem dort errichteten roten Kreuz auf weißem Hintergrund zu beten, Blumen niederzulegen und Lieder zu singen. Darauf folgte eine Parade, geleitet von zwei Dorfältesten in Offiziersuniformen der US-Armee. Es marschierte eine mit Bambusgewehren samt rot gestrichenen Bajonetten ausgerüstete Hundertschaft. Auf ihren nackten Oberkörper hatten die Männer die Buchstaben „USA" in roten Lettern gemalt. Die Truppe hielt am hölzernen Abbild eines Luftwaffenstützpunkts samt Flugturm und Radioantennen. Dort rezitierten die Häuptlinge Beschwörungsformeln wie „Roger ... over and out ... You have landing clearance ... come in". Dann wurde die US-amerikanische Flagge feierlich gehißt, schließlich getanzt und Kava, das heimische Rauschmittel, reichlich verzehrt.

Dieser absonderliche Ausbruch von Philo-Amerikanismus ist nicht dem sogenannten Kampf gegen den Terror zu verdanken. Gefeiert wird da der John-Frum-Tag, der Tag, an dem die mythische Figur John Frum wiederkehren und die Bevölkerung Tannas mit der versprochenen Fülle von Gütern beschenken soll. Die Bewegung ist die berühmteste und vielleicht hartnäckigste von tausend ähnlichen Erscheinungen, die seit hundert Jahren im melanesischen Raum sporadisch ausbrechen. Gemeinhin werden sie Cargo-Kulte genannt, wobei Cargo ein Sammelbegriff für Schiffs- bzw. Flugzeugladungen von Importwaren ist ­ ein Warenkult also.

Die ersten Unruhen auf der damals unter britischer Verwaltung stehenden Insel Tanna gab es im Frühjahr 1940. Nachdem die Koprapreise, die Haupteinnahmequelle der Insel, gefallen waren, wurden Versammlungen abgehalten, von denen Weiße ausgeschlossen waren. An diese Kundgebungen richtete sich die Botschaft eines gewissen John Frum, der beschrieben wird als ein mysteriöser kleiner Mann mit weißem Haar und Fistelstimme in einem mit blanken Knöpfen besetzten Rock, der ausschließlich vor Männern unter der Einwirkung von Kava erschien. John Frum forderte auf zu gemeinschaftlicher Gartenarbeit und Kooperation und befürwortete Tanz und Kavatrinken. Nach einem kommenden Kataklysmus würde er sich offenbaren, indem er eine Herrschaft der Glückseligkeit errichtete. Die Eingeborenen würden von neuem ihrer Jugend teilhaftig, keine Krankheiten würden mehr umgehen. Sich um Gärten, Bäume oder Schweine zu kümmern, sei dann nicht mehr notwendig.

Nur eine Schwierigkeit stand dem sofortigen Anbruch dieses Glückszustandes entgegen ­ die Anwesenheit der Weißen, die ausgestoßen werden müßten. Auch der Gebrauch von europäischem Geld müßte aufgegeben werden. Hinzu kam die Wiedereinführung jener Bräuche, die von den Missionaren verboten worden waren: Kavatrinken, Tanz und Polygamie. Doch das Zukunftsziel war nicht die Wiederherstellung der Tradition ­ hatte sie doch hinreichend gezeigt, daß sie zur Enthüllung der Geheimnisse der Weißen nicht taugte ­, sondern ein neues Leben mit all den materiellen Reichtümern der Europäer, die den Eingeborenen zugute kommen sollten. Je nach Bedarf würde ein jeder Fleischdosen, Kühlschränke, Radiogeräte, Autos, Maschinenpistolen, Zigaretten und blonde Frauen bekommen.

In einer wahren Orgie der Selbstentäußerung gaben nun die Eingeborenen ihr Geld aus, um das Zahlungsmittel der Europäer loszuwerden, das ersetzt werden sollte durch John-Frum-Geld, kenntlich an einer aufgedruckten Kokosnuß. Einige warfen sogar ihre lange gehorteten Ersparnisse ins Meer, mit der Begründung: „Ist erst das letzte Geld von der Insel verschwunden, werden die weißen Händler wohl gehen müssen." Verschwenderische, zügellose Feste wurden gefeiert, um Lebensmittel aufzubrauchen. Die Anhänger verließen die durch die Missionen gegründeten Dörfer, um Kommunen zu gründen. Gottesdienste und Schulen blieben leer.

Die beunruhigte britische Verwaltung schickte Polizeiverstärkung und ließ einen Anführer namens Manehivi festnehmen. Er wurde zu drei Jahren Haft und fünf Jahren Exil verurteilt. Doch trotz Repression florierte die Bewegung weiter. Der nächste Ausbruch erfolgte im Dezember 1941, als die Nachrichten von Pearl Harbour durchsickerten. Der antibritischen Stimmung wegen folgten weitere Verhaftungen. Da die Insulaner die Ankunft John Frums jeden Augenblick erwarteten, wurden ununterbrochen Festmähler abgehalten. Besonders aufgeregt waren die Jugendlichen. Mädchen und Knaben lebten jetzt in einer gemeinsamen Behausung miteinander, sie nahmen gemeinsame Bäder bei Tag und tanzten die ganze Nacht durch. Weitere Verhaftungen wegen Inzest und Ehebruch folgten.

Just zu diesem Zeitpunkt landeten US-Truppen auf Tanna, um dort einen vorübergehenden Luftwaffenstützpunkt zu errichten. Öl aufs Feuer: John Frums Prophezeiung schien sich zu bestätigen, da die Amis mit der üblichen Verteilung von Colaflaschen, Lucky Strikes und Konserven anfingen. Einheimische wurden freundlich von Militärärzten behandelt, die ein rotes Kreuz trugen ­ fortan Symbol der Bewegung. Am erstaunlichsten aber war die Kunde, daß viele dieser US-Soldaten Schwarze waren! Es war prophezeit worden, daß viele schwarze Amerikaner kämen, um die Eingeborenen zu befreien. Ihre Dollars seien das neue Geld, sie würden alle Gefangenen freilassen und Löhne zahlen.

Die GIs blieben nur kurze Zeit auf Tanna, doch lange genug, um die ganze Insel ins Chaos zu stürzen. Statt für die Engländer zu arbeiten, fingen die Anhänger John Frums an, Flugplätze zu bauen, um die Landung des Cargos zu ermöglichen. Denn offensichtlich waren die Ahnen bloß kurz nach Amerika zurückgeflogen, um dort eine größere Staffel bereitzustellen. Die Briten griffen erneut zu Repressionen, doch diesmal leisteten die mit Knüppeln und Flinten bewaffneten Eingeborenen Widerstand. Ein neuer Anführer, Neloaig, verkündete, er sei der König von Amerika und Tanna. Er organisierte eine bewaffnete Streitmacht, um den in fieberhafter Eile fortgeführten Bau des John-Frum-Flugplatzes zu sichern. Nach Neloaigs Verhaftung befreite ihn eine Bande aus dem Zuchthaus, er verbarg sich jahrelang im Busch, bis er sich schließlich stellte und in einem Irrenhaus landete.

Nach dem Weltkrieg ging die Bewegung weiter. So wurden 1947 in Reaktion auf überhöhte Preise Geschäfte gestürmt. Die Eingeborenen stiegen auf die Ladentische, rissen die Preisschilder heraus und nahmen die Güter kurzerhand in Besitz. Die Repressionen wurde noch verstärkt, Rebellen wurden deportiert, ihre Häuser zerstört. Nichtsdestotrotz setzte sich der John-Frum-Kult in heimlichen Ritualen fort.

Cargo-Bewegungen haben eine umfangreiche Literatur hervorgebracht. Eine Denkschule faßt solche Mythen bloß als eine Folge der Akkulturation auf. Es seien Versuche, gewisse Probleme in indigenen Begriffskategorien zu lösen, welche aber aufgrund eines Aufklärungsdefizits zum Scheitern verurteilt seien. Die Weißen, denen die Inselbewohner begegnet waren, stellten die Güter, die sie reichlich konsumierten, sichtbar nicht selbst her. Hingegen war die Urbevölkerung zu harter Arbeit gezwungen, ohne über einen angemessenen Anteil des importierten Reichtums verfügen zu dürfen. Also lag der Schluß nahe, der Cargo-Reichtum sei kein Erzeugnis menschlicher Arbeit. Überlegene Produkte erschienen als Ergebnis eines überlegenen Kultes. Die Akkulturationstheorie geht indes nicht über den Schluß hinaus, der Kult leide unter einem bedauerlichen Mangel an ökonomischen Kenntnissen. Er sei die noch irrationale Hülle eines im Kern rationalen Strebens nach politischer Unabhängigkeit und wirtschaftlicher Entwicklung.

Es gibt aber eine radikalere Interpretation des Phänomens, die aus einer Umkehrung der Perspektive besteht. Aus dieser Sicht sei für die Insulaner die Welt der Weißen genau so unverständlich wie für vernünftige Menschen die Handlungen eines Wahnsinnigen. In der melanesischen Urgesellschaft stand nicht Produktion, sondern Zirkulation im Mittelpunkt des sozialen Handelns. Reichtum war nicht abstrakt, sondern personengebunden. Charisma wurde nicht durch Besitz, sondern durch Verausgabung erworben. In Bezug auf Stabilität, Gegenseitigkeit und Eintracht ist dieses System dem Kapitalismus überlegen. Nicht die Rationalität des Kultes wird von diesem Standpunkt aus in Frage gestellt, sondern vielmehr die des kapitalistischen Marktes. Der Kult hält uns einen Spiegel vor Augen. Versucht man, die tiefen Motivationen der Eiferer im Südpazifik zu untersuchen, stößt man auf Merkmale, die ebenso im Herzen unserer angeblich entzauberten Welt gelten. So betrachtet sind diese Melanesier ebenso rational und irrational wie wir.

Wie auch immer, für gut geschulte Rationalisten bestehen Erscheinungen wie die John-Frum-Bewegung allein aus einem peinlichen Trugschluß. Auf gebauten Flugplätzen landen mit Waren beladene Flugzeuge, also reicht es aus, Flugplätze zu bauen, um an Waren zu kommen. So schrieb der Physiker Richard Feynman: „Sie tun alles richtig. Die Form ist perfekt. Alles sieht genau so aus, wie es früher aussah. Aber es funktioniert nicht. Kein Flugzeug landet. Dies nenne ich Cargo Cult Science, denn sie folgen alle den scheinbaren Geboten und Formen der wissenschaftlichen Untersuchung und verfehlen doch etwas Wesentliches." Eigentlich ist Feynmans Essay zur Cargo-Kult-Wissenschaft ein Plädoyer für Integrität und gegen Selbsttäuschung in der Forschung, doch in dieser aufklärerischen Anweisung werden Melanesier als eher dümmliche Kinder vorgeführt. Ebenso despektierlich wird heute im Hackerjargon mit „Cargo Cult Programming" eine inkompetente Art der Programmierung benannt, die „von der rituellen Beifügung von Codes oder Programmstrukturen dominiert ist, die keinem realen Zweck dienen". Da wieder lautet die Botschaft: Die Primitiven sind unter uns.

Und gewiß fällt es nicht schwer, hierzulande John-Frum-ähnliche Rituale aufzuspüren. So werden in Berlin Bürotürme gebaut, in der Erwartung, daß sie sich irgendwann von selbst mit Angestellten füllen, ungeachtet des Leerstands der bereits bestehenden Türme. Ebenso wird meistens in neue Technologien investiert: nicht für ein konkretes, greifbares Ziel, sondern in der von Marktpropheten geschürten Hoffnung einer wirtschaftlichen Erlösung. Und doch sollte die Folgerung eines unvermeidbaren Scheiterns des John-Frum-Kultes nicht vorschnell gezogen werden.

Die Neuen Hebriden wurden erst 1980 zur unabhängigen Republik Vanuatu. Dann plötzlich änderte sich die offizielle Haltung gegenüber der Bewegung. Da die Tourismusbranche eine Schlüsselrolle in der Inselgruppe bekam, begannen Tourismusbehörde und Reiseveranstalter, sich für das Unterhaltungspotential der John-Frum-Eiferer zu interessieren. Die indigene Nachahmung einer militärischen Parade wurde zum attraktiven Event gemacht. Schließlich ist die Bewunderung für amerikanische Errungenschaften eine rührende Schau für US-Touristen. Entsprechend werben jetzt die Reisebroschüren für die Bewegung als exotisches Spektakel. Gefragt über die Auswirkung einer solchen Vermarktung, bestätigt der Betreiber einer „John Frum Homepage", daß der Kult in den letzten Jahren zu einer folkloristischen Angelegenheit bar jeglicher sozialen Brisanz wurde. Aber, fügt er hinzu, und das ist die Pointe: „Gerade dadurch sehen sich die John Frums in ihrem Glauben endgültig bestätigt." Sie brauchen bloß zu tun, was sie immer taten, um endlich Geld zu bekommen. Dem Reisenden Paul Théroux versicherte ein Tanna-Bewohner: „Er ist wiedergekehrt. Jetzt haben wir Waren. Schau dir die Läden an! Wir haben Kava. Wir haben Tänze. John Frums Geist ist unter uns!" Was im kolonialen Kontext eine Fehleinschätzung war, wurde zur richtigen Strategie im Zeitalter der immateriellen Wertschöpfung. Nicht harte Arbeit, sondern die beharrliche Durchführung des Kultes war schließlich doch das richtige Mittel, um den Zugang zum Cargo zu sichern.

Guillaume Paoli

 
 
 
Ausgabe 3 - 2005 © scheinschlag 2005