Ausgabe 3 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Reif für die Insel

Westberlin ­ eine rückwärtsgewandte Utopie

Meine Stadt gibt es nicht mehr. Ich habe das alte Westberlin – das ummauerte, nicht die heutigen Stadtbezirke westlich des Brandenburger Tors – zwar gar nicht mehr kennenlernen dürfen, mit wachsendem zeitlichen Abstand aber wächst meine Gewißheit, daß das durchaus meine Stadt gewesen wäre. Zu Mauerzeiten hatte ich keine Beziehung zu Berlin, weder Ost noch West, kannte da auch niemanden, wurde leider erst aufmerksam auf diese Stadt, als es eigentlich schon zu spät war, als das im Gefolge der Grenzöffnung ohnehin alle wurden und die Stadt im Vorfeld der Übernahme der DDR durch die BRD tägliches Nachrichtenthema war.

Ich kam also zu spät. Und dennoch war im Herbst 1990 überdeutlich, daß man es mit zwei voneinander strikt getrennten Stadthälften zu tun hatte. Einem Westberliner Taxifahrer mußte ich, nur wenige Stunden nach meiner Ankunft, anhand eines Stadtplanes den Weg zum Schauspielhaus am Gendarmenmarkt erklären. Zwar gibt es auch heute noch viele Ost- und Westberliner, vielleicht sogar Taxifahrer, die die andere, mittlerweile frei zugängliche Stadthälfte bloß zögernd oder auch gar nicht zur Kenntnis nehmen, aber es gibt eben leider kein Westberlin mehr. Wie das war, meine ich mir aber einigermaßen zusammenreimen zu können ­ aus Lektüre, Zeitzeugen-Berichten, anhand mancher verschlafener Ecke in Charlottenburg oder Neukölln, wo seitdem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint.

In Westberlin hat sich alles so schön sortiert. Wehrdienstverweigerer, Verrückte, Schwule, politische und künstlerische Extremisten strömten in die Stadt, während das Großbürgertum und Großkapital samt Entourage, Lobbyisten und sonstigen Vollidioten, nicht zu vergessen „die Medien" – abgesehen von der affigen Springer-Posse mit dem Hochhaus – mehrheitlich das Weite suchten. Der Rest war subventionierter Freiraum. Man hatte da wohl wirklich seine Ruhe und auch nicht diesen idiotischen Gentrifizierungsdruck. Es wurden nicht jede Woche neue In-Kieze ausgerufen oder verabschiedet, es war wohl eher so wie auch heute noch in Hamburg oder Frankfurt, wo es fest etablierte Alternativ- oder Szeneviertel gibt, die nicht ständig ihren Standort ändern. Man weiß, was man hat und wo man hingehört; die anderen wissen, wo sie nicht hinwollen. Zwar wurde das politische Personal der „Frontstadt" – von einzelnen, selbstverständlich importierten „Regierenden" als Aushängeschilder abgesehen – von Dumpfbacken gestellt, die sonst wohl zu gar nichts zu gebrauchen gewesen wären und folglich auch nie auf Bundesebene Karriere machten. Aber die standen ja im Zweifelsfall unter der Aufsicht der Alliierten. Was dabei herauskam, als diese Wahnsinnigen dann freie Bahn hatten, hat man ja gesehen.

„Überall Nischen, eigentlich gar nichts anderes als Nischen, in denen sich alles Alternative mächtig sammelte" ­ so charakterisiert die Schriftstellerin Elfriede Czurda, 1980 nach Westberlin gekommen, rückblickend die damalige Situation. Der gebürtige Berliner Bodo Morshäuser schreibt in seiner Erzählung Die Berliner Simulation (1983): „Wer in dieser Stadt überhaupt arbeitet, fragst du. Gute Frage. Ich weiß es nicht. Ich glaube, wir sind alle beim Film. Mittags sieht man uns die Subventionen an. Das Prinzip dieser Stadt ist Verschwendung. Jeder gibt mehr aus, als man hat. Aus dem einfließenden Geld wird Unruhe. Hier werden die Verhältnisse kurz vor ihrem Eintritt schon einmal vorgespielt." Die Verhältnisse sind nicht eingetreten, im Gegenteil. Zwar wird heute sicherlich noch weniger gearbeitet als damals, aber das ist das Elend von Hartz IV und drohender Ein-Euro-Zwangsarbeit. Und gedreht werden in Berlin nur schlechte Fernseh-Klamotten und sogenannte „Berlin-Filme".

In Westberlin gab es auch die bessere und lebendigere Kunst und Kultur als im heutigen, von Spaßkunst und Kommerz beherrschten Großberlin. Das wird jetzt immer deutlicher, da die vielen Underground- und No-Budget-Aktivitäten die Phase ihrer Historisierung erleben: Die Tödliche Doris, Geniale Dilletanten, Merve Verlag, Frieder Butzmann, das sind nur einige Namen und Stichworte. Zwar traten auch die „jungen wilden" Maler mit ihren großformatigen, marktkompatiblen Schmierbildern ihren Siegeszug von Westberlin aus an, aber das war ja vielleicht schon ein erstes Anzeichen, daß dieses Biotop seinen Zenit überschritten hatte.

In den sechziger Jahren war es auch Westberlin, das Gerhard Rühm und Oswald Wiener von der „Wiener Gruppe" als Zufluchtsort diente. In Wien wurden diese Neoavantgardisten bekämpft oder ignoriert, in Westberlin stießen sie auf Interesse, gab es damals doch noch einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der Experimenten gegenüber aufgeschlossen war. So konnte Rühm im Juni 1969 an seinen Freund Friedrich Achleitner in Wien schreiben: „wann übersiedelst du endlich? fast alle sind schon da! wir haben bereits eine österreichische exilregierung gegründet, mit publizistischem organ, (fingiertem) regierungssitz und hauptfahne!"

Nun mag es schwer sein, sich Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain wegzudenken aus seiner persönlichen Berlin-Topographie. Aber man stelle sich doch einfach vor, die paar Kneipen, die man dort frequentiert, wären in der Goltz- oder der Oranienstraße, die geschätzte Galerie nicht in der August-, sondern in der Fasanenstraße, der angesagte Club in Moabit, dann würde man halt dort ausgehen und wohnen. Altbauten stehen auch in Steglitz herum, und auf die Preußen-Repräsentation Unter den Linden könnten wir doch leichten Herzens verzichten, oder?

Aber die Insel-Lage, war die denn nicht schwer zu verkraften? Ich kenne jedenfalls keinen Zeitzeugen, der so etwas behaupten würde. Wer fährt denn heute in jeder freien Minute ins Umland jenseits der Stadtgrenze? Sicher, es gibt in Brandenburg ein paar schöne Seen. (Die Nazis will ich jetzt aus dem Spiel lassen.) Wenn ich aber Berlin verlasse, dann doch meist mit der Bahn auf einer der ehemaligen Transitstrecken oder gleich mit dem Flugzeug von Tegel aus. An meinem Reiseverhalten würde sich, glaube ich, nicht viel ändern. Außerdem war damals die Verkehrs-Infrastruktur einfach besser. Wer das für das Signum einer Metropole hält, konnte auf den täglichen Direktflug nach New York verweisen, und die BVG war auch noch ihr Geld wert. Obwohl sie kaum jemand benötigte, war etwa die Taktfolge auf der U-Bahnlinie 8 wesentlich dichter als heute.

Ich glaube, wir müssen aus Berlin weggehen. Wir müssen uns etwas anderes überlegen. Könnte man nicht vielleicht irgendwo im Ruhrgebiet so ein Reservat einrichten, eine Insel, wo wir ein neues „Westberlin" aufmachen, in einem entvölkerten Teil von Duisburg oder Dortmund, wo man in den verlassenen Industriehallen garantiert noch viel bessere Parties feiern könnte als in Mitte? Die Unzufriedenen aus dem Osten dürften diesmal natürlich auch mitmachen. Dann könnte die Polit- und die Medienmafia unter sich bleiben. Zu gut bezahlten Gastspielen würden wir uns ab und zu schon nach Berlin locken lassen. Natürlich müßten Subventionen fließen, aber das wäre langfristig ja vielleicht sogar eine gute Investition. Spätestens, wenn uns die MTV-Zentrale hinterherzöge, wüßten wir dann, daß auch diese Zeit zu Ende ist.

Florian Neuner

 
 
 
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