Ausgabe 3 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Berlin 1905

24. März bis 27. April

Zwei telegraphisch übermittelte Briefe des seit dem Petersburger Blutsonntag ins Ausland geflüchteten Führers der russischen Arbeiterbewegung Georgi Gapon werden in der deutschen Presse veröffentlicht. Der eine Brief lautet:

„An die Arbeiterschaft. Ihr habt die große, wirkliche, russische Revolution begonnen. Auf Euch, Ihr Helden, Ihr Vorläufer des schrecklichsten Volksaufstandes, sind die Augen ganz Rußlands und der ganzen Welt gerichtet. Im Namen der Freiheit, im Namen des Blutes Eurer Frauen und Kinder beschwöre ich Euch: Verliert nicht den Mut! Laßt Euch nicht von den falschen Versprechungen der mörderischen Ratgeber des Zaren fangen. Verschachert nicht Eurer Leben und das nahe Glück Eures Vaterlandes für ein Linsengericht! Arbeiter, wollt Ihr den Sieg, so vereint Euch ohne Unterschied der Partei, des Glaubens, der Nationalität! Befolgt den Rat der großmütigen Jugend der Universitäten und aller anderen Intellektuellen, die Eure Freunde sind. Gewinnt Männer der Tat für Eure Sache; aber hütet Euch vor den Schwachen. Geht sofort an die Propaganda und an die Vorbereitungen für die Bewaffnung der Insurrektoren. Möge Eure Stimme gleich dem wutschnaubenden Meer durch das Land ertönen und das Arbeitervolk erwecken zum Kampfe für Recht und Freiheit.

Tretet in Verbindungen ein, soviel Ihr könnt, mit Soldaten und Kosaken, und ruft auch sie zu Eurer Hilfe. Saget ihnen, es sei besser für sie, ihr Blut für Rußlands Freiheit und das Glück des Volkes zu vergießen, als von Hunger gequält auf den Schlachtfeldern der Mandschu-rer zu kämpfen. Verjagt die Spione und Lockspitzel, die Euch zu Konzessionen raten, und tötet sie ohne Erbarmen, wenn sie Euch verraten wollen. Verachtet den heiligen Synod, die Bischöfe und die Priester, die aus Liebe zu Gott lügen und den Mördern, Dieben und Defraudanten des öffentlichen Gutes dienen und jene verdammen, die ihr Blut für die Freiheit verspritzen. Befaßt Euch mit der Organisation von Arbeiterbataillonen. Sammelt Gelder zur Anschaffung von Waffen und lernt den Gebrauch von Waffen. Tötet ohne Mitleid jeden, der das Blut der Brüder vergießt. Vor allem aber laßt dieser verdammten Regierung, dieser Bande von verruchten Mördern, nicht die Zeit, sich zu fassen. Zu diesem Zweck tötet die Generale, die Offiziere, die Gouverneure, die Polizeichefs. Vergeßt auch nicht die bewaffneten Demonstrationen, die Strikes, die lokalen Aufstände.

Wisset, daß dafür gesorgt ist, daß Ihr zur rechten Zeit jede Art von Waffen, namentlich Dynamit, zur Verfügung habt. Erhebt Euch wie ein Mann, wenn das Komitee der Rache Euch das Zeichen geben wird. Hemmt dann mit einem Schlage alles Leben in den Städten. Zerstört auch die Wasser- und Gasleitungen, die Telegraphen- und Telephonverbindungen und die Eisenbahnstrecken. Brennt die Staatsgebäude nieder, befreit die Gefangenen, aber schont jeglichen Privatbesitz. Der Plan des allgemeinen Aufstandes wird in nächster Zeit von Eurem Komitee fertiggestellt sein. Sein Zweck ist die Niederstreckung der Autokratie und die Einsetzung einer provisorischen revolutionären Regierung, die Einberufung der Konstituanten. Arbeiter! Die Stunde der Freiheit ist nahe. Schon ist Großfürst Sergins von unserer Rache getroffen worden. Sie wird in verdoppelter Schärfe andere nach ihm treffen. Verbreitet diesen Aufruf unter Euch und über ganz Rußland!"

Der zweite Brief ist an den Zaren gerichtet und hat folgenden Wortlaut:

„An Nikolaus Romanow, früheren Zaren. Voll naiven Vertrauens an Dich, als Vater Deines Volkes, kam ich friedlich zu Dir, begleitet von den Kindern Deines Volkes. Du mußtest es wissen, und Du wußtest es. Trotzdem ist das Blut der Arbeiter, ihrer Frauen und Kinder geflossen. Dieses Blut wird Dich in Zukunft für immer von Deinem Volke trennen, niemals wird das moralische Band zwischen Dir und dem Volke wieder zusammengeknüpft werden. Den anschwellenden Volksstrom wirst Du nicht eindämmen können, weder durch halbe Maßnahmen, noch durch das Versprechen der Einberufung einer Volksvertretung. Dynamitbomben des kollektivistischen und individuellen Terrorismus des Volksaufstandes erwarten Dich, Deine Familie und alle Mörder des Volkes.

Ich sage es, und es wird geschehen. Es werden vielleicht Ströme von Blut fließen, Deinetwegen wird vielleicht Rußland ins Verderben gestürzt. Versuche, mich zu verstehen, und lasse es Dir ein für alle Male gesagt sein: Verzichte vielmehr so schnell als möglich mit Deiner ganzen Familie auf den russsichen Thron und fliehe vor dem Gerichte des russischen Volkes. Gapon"

Falko Hennig

Am 31. März lädt Falko Hennig um 21 Uhr zu Radio Hochsee zum Thema Muppets Show in die WABE, Danziger Straße 101, Prenzlauer Berg. Gast-Experte: Jörg Tensing. Weitere Informationen unter www.Falko-Hennig.de

Habe Mitleid mit Deinen Kindern und mit Deinem Lande, Zar, Du, der Du den anderen Völkern Frieden versprachst und Dein eigenes Volk erwürgtest.

Bild: Archiv Hennig

 
 
 
Ausgabe 3 - 2005 © scheinschlag 2005