Ausgabe 3 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Oben vermehren, unten teilen

Gabriele Gillens Streitschrift Hartz IV. Eine Abrechnung

„Hartz IV ist ein menschenverachtendes Projekt. Es macht die Schwachen noch schwächer als sie schon sind, und das alles im Namen des Sozialstaats. Verfassungswidrig ist zwar nicht das Ziel, wohl aber sind es einige Stationen des Wegs, auf dem das Ziel erreicht werden soll", schreibt die Neue Juristische Wochenschrift, eine linker Umtriebe gänzlich unverdächtige rechtswissenschaftliche Fachzeitschrift.

Diese Äußerung erstaunt umso mehr, als inzwischen bis in linksliberale Medien hinein permanent Reformen des Sozialstaats, Flexibilisierung des Arbeitsrechts und Bürokratieabbau gefordert werden. Bereits an diesen Begriffen ist zu erkennen, wer die öffentliche Debatte dominiert, denn wer wollte schon unflexibel, gegen Reformen oder gar für Bürokratie sein? Ein Fall von Orwellschem Neusprech, denn gemeint sind Sozialabbau, Einschränkung von Arbeitnehmerrechten und Umverteilung von unten nach oben.

Die Journalistin Gabriele Gillen setzt diesem publizistischen Mainstream ihre zornige Streitschrift Hartz IV. Eine Abrechnung entgegen. In anschaulichen Beispielen erläutert sie etwa, daß ­ entgegen der offiziellen Darstellung ­ auch bisherige Sozialhilfeempfänger aufgrund der Streichung diverser Pauschalen und Vergünstigungen (wie der verbilligten Monatskarte für den öffentlichen Nahverkehr) durch die Einführung von Arbeitslosengeld II weniger bekommen. Oder daß Arbeitslose erst dann Arbeitslosengeld II erhalten, wenn sie ihr für die Alterssicherung angespartes Vermögen, das 200 Euro pro Lebensjahr übersteigt, aufgebraucht haben. Mit dieser Regelung ist der Weg in die Altersarmut vorprogrammiert. Und sie fragt, warum trotz des Abbaus von 2,5 Millionen Vollzeit-Arbeitsplätzen von 1996 bis 2004 ­ derzeit sind es täglich etwa 2000 sozialversicherungspflichtige Stellen ­ „die Massenarbeitslosigkeit den Menschen weiterhin als persönliches Schicksal aufgebürdet" wird.

Nach dem Anfang März vorgelegten „Armuts- und Reichtumsbericht" der Bundesregierung ist der Anteil der Armen in Deutschland zwischen 1998 und 2003 von 12,1 auf 13,5 Prozent gestiegen. Das sind etwa elf Millionen Menschen, die mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens auskommen müssen ­ für den FDP-Sozialexperten Heinrich Kolb der Beleg dafür, daß der Versuch, Armut mit immer mehr Umverteilung zu bekämpfen, gescheitert sei. Umverteilung von wo nach wo? Seit etwa 30 Jahren öffnet sich die Einkommensschere wieder, in den letzten Jahren hat sich diese Entwicklung erheblich beschleunigt. Und die Einsparungen bei den Arbeitslosen durch die „Agenda 2010" sind genauso hoch wie die Gewinne der Reichen durch die Senkung des Spitzensteuersatzes: ca. sechs Milliarden Euro jährlich.

Siemens und DaimlerChrysler haben 2004 trotz Rekordgewinnen durch die Drohung mit Produktionsverlagerungen Arbeitszeitverlängerungen durchgesetzt. Eine „gelungene Erpressung in Tateinheit mit Lohnraub", so Gillen. In den Augen vieler Unternehmer war das erst ein Anfang. Laut Siemens-Chef Pierer werden in China pro Arbeitnehmer und Jahr 2600 Stunden gearbeitet, in Deutschland nur 1500. Da ist noch viel Spielraum nach oben. „Die Kürzungen der Arbeitslosengelder durch Hartz IV sind eine reine Vorsorgemaßnahme für den in solchen Zukunftsszenarien unausweichlichen Andrang auf die Kassen der Bundesagentur für Arbeit. Denn was oben vermehrt wird, muß unten geteilt werden", schreibt Gillen dazu.

Wieso ausgerechnet eine Verlängerung der Arbeitszeit zusätzliche Arbeitsplätze schaffen soll, müssen deren wirtschaftsliberale Apologeten erst noch erläutern. Selbst die Financial Times Deutschland rechnete am 2. Juli 2004 vor, daß bei fünf Stunden mehr Arbeit pro Woche die Wirtschaft statt um zwei um 15 Prozent wachsen muß, bevor die Zahl der Beschäftigten wieder ansteigt. Diesen Wert erreicht nicht einmal China.

Arbeitszeitverlängerungen und Lohnkürzungen werden regelmäßig mit der angeblich mangelhaften Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft begründet. Aber Deutschland ist Exportweltmeister. Und die Gewinne der 30 im Deutschen Aktienindex geführten Unternehmen sind 2004 um über 50 Prozent gestiegen. Kein Wunder, denn trotz der ständig vorgetragenen Forderung nach einer weiteren Senkung der Unternehmenssteuern sind diese in Deutschland nach Griechenland am niedrigsten innerhalb der EU.

Der Wunsch, daß die Profite der großen Unternehmen reinvestiert werden und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze führen, erfüllt sich nicht. Eher dienen sie weiteren Rationalisierungen oder Produktionsverlagerungen ins Ausland. Das entscheidende Problem in Deutschland ist denn auch die Binnennachfrage. Diese aber wird durch die Kürzung der Arbeitslosenunterstützung oder die Einführung von Ein-Euro- und anderen Niedriglohnjobs sowie dem damit verbundenen Druck auf die Löhne in den verbliebenen regulären Beschäftigungsverhältnissen nicht gerade angekurbelt.

Gillens Buch enthält zwar nicht viel Neues, aber eine gut verständliche Zusammenfassung der derzeitigen sozialpolitischen Entwicklung. Und das ist angesichts der eingangs erwähnten vorherrschenden Berichterstattung auf jeden Fall begrüßenswert.

Frank Fitzner

Gabriele Gillen: Hartz IV. Eine Abrechnung. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004. 7,90 Euro

 
 
 
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