Ausgabe 3 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

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Ein Eldorado des Auslebens unkonventioneller Ideen und der Aneignung freier Räume – so müssen der staunenden Besucherschar einige Ecken Berlins erscheinen. Neu ist das eigentlich nicht, gab es doch seit Jahrzehnten genug „vernachlässigte" Gebiete in der Stadt, in denen es von verwachsenen Brachflächen, aufgegebenen Fabriken, leerstehenden Läden oder der Sanierung harrenden Häusern nur so wimmelte. Das dazu passende Milieu an Ideen reicher, an Geld jedoch eher armer Alternativlinge erfreute sich billiger schimmliger Wohnungen und feierte in eigens improvisierten – und nicht immer leicht zu entdeckenden – Etablissements den Charme der heruntergekommenen Viertel.

„Subkultur" nennt man das dann wohl, und es erfreut sich sogar ganz erheblicher Beliebtheit ­ auch bei finanzstärkeren Kultur- und Kreativitätshungrigen. So wird der spezielle Stil besagter Etablissements nicht nur von der Luxusmoderniserung, der Abrißbirne oder dem Gewerbeaufsichtsamt bedroht, sondern auch vom sich wandelnden Publikum, dessen zunehmend wohlgenährte Geldbörsen die Etablierung der ach-so-szenigen Orte vorantreiben.

Will man sich Räume zu neuen Zwekken aneignen, so gibt es bekanntlich zwei Wege: Man fragt höflich nach oder man nimmt sie sich einfach. Die letztere Strategie wird seit längerem ­ unabhängig von der politischen Couleur der jeweils Regierenden ­ durch die „Berliner Linie" erschwert, d.h. durch die sofortige polizeiliche Räumung. Gestaltungswilde Jungunternehmer sind also auf den guten Willen der Haus- und Grundeigentümer angewiesen ­ oder auf ihre eigene Finanzkraft. Denn wer will schon Räume für kaum Geld an irgendwelche Dahergelaufenen mit unkonventionellen Ideen hergeben, wenn vielleicht schon morgen der langersehnte potente Investor an die Tür klopfen könnte?

So erging es gerade der Projektgruppe Forum K82, die in einer jüngst aufgegebenen Schule in der Kastanienallee ein „Zentrum für selbständige und kooperative Bildung und Arbeit" gründen wollte. Obwohl das geplante Gewusel von kreativen Kleinstunternehmen und Initiativen wie eine Inkarnation von Ich-AG und Zivilgesellschaft klingt, zeigte sich der Bezirk nicht interessiert und vergab die Räumlichkeiten an eine private Sprachenschule. Diese bringt wohl mehr Geld mit als die nur zur Zahlung der Betriebs- und Unterhaltskosten bereite Projektgruppe. Und „seriöser" ist sie sicherlich auch.

Ungeahnte „Freiheiten" ergeben sich dagegen, wenn Immobilienfirmen viel Geld in teure Grundstücke, Pläne und Gemäuer gesteckt haben, diese aber nicht loswerden, weil die erhoffte Belebung und „Aufwertung" der Umgebung ausbleibt. Schließlich gibt es in Berlin zuhauf leerstehende Neubauten in guter Lage, mit echtem Kiezleben drumherum. Die Marketingleute der „Heeresbäckerei" am Kreuzberger Spreeufer z.B. haben das fehlende Lifestyle-Potential kurzerhand inszeniert. So erscheint als Szene-Club im Underground-Stil, was eine von den Immobilienentwicklern eingefädelte Aufwertung per Zwischennutzung ist. Kultur läßt sich ja bekanntlich für nahezu alles nutzen, auch für die Steigerung der Mieteinnahmen und die marktgerechte Umgestaltung eines Stadtviertels.

„Zwischennutzung" ist das große Stichwort, ob nun bei den nach ungewöhnlichen Orten hungernden Kulturschaffenden oder bei den nach Aufwertungsmöglichkeiten suchenden Stadtplanungsstrategen. Die Senatsverwaltung für Finanzen sieht in der Zwischennutzung leerstehender öffentlicher Gebäude inzwischen Einsparpotentiale für den Landeshaushalt. Selbstverständlich dürfe jedoch „das Ziel eines Verkaufs der betreffenden Grundstücke durch die Zwischennutzungen nicht beeinträchtigt werden". (Nebenbei: ein genialer Passus zur Vereitelung jedes unerwünschten Projekts.) Gerüchten zufolge treibt das angesagte Thema bereits derart groteske Blüten, daß schon große Discount- Ketten bei öffentlichen Stellen um Flächen zwecks „Zwischennutzung" nachgefragt haben sollen. Die Zelte, die sie dort aufzuschlagen gedenken, würden sie nach zehn bis fünfzehn Jahren ohnehin wieder abbrechen ...

Tobias Höpner

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