Ausgabe 2 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Und manchmal ein Mondfisch

Die deutscheste aller Inseln im stürmischen Winterschlaf

Es stürmt. Wir müssen uns aneinander festhalten, um nicht weggeblasen werden. Die wenigen hundert Meter des Klippenrandwegs zurückzulegen ist mühselig an solchen Tagen. Die Heidschnucken haben sich in einem Bombenkrater zusammengerottet, um ihrerseits nicht von der Insel geblasen zu werden. Windstärke 8 – die abstrakte Zahl aus den Meldungen des Seewetterdiensts Hamburg wird anschaulich: Jetzt können keine Schiffe mehr nach Cuxhaven fahren, wir sitzen auf der Insel fest. Auf den Winterfahrplan, nach dem das Schiff mit dem dämlichen Namen „Funny Girl" ein paar Mal pro Woche zwischen der Insel und dem Festland verkehrt, sollte man nicht bauen. Jeden Tag muß neu entschieden werden, ob das Schiff auslaufen kann, in den Kneipen ist es das Gesprächsthema Nummer eins. Man könnte auch die Kleinflugzeuge der Ostfriesischen Lufttransport GmbH nehmen, die auf der Düne landen, der Nachbarinsel mit dem Badestrand, die schon im 18. Jahrhundert bei einer Sturmflut vom roten Felsen abgetrennt wurde – aber auch die fliegen nicht bei jedem Wetter, und irgendwie ist es doch stillos, die Insel so zu verlassen.

Am 1. Januar war die Funny Girl noch nach Cuxhaven und wieder zurückgefahren; am nächsten Morgen schon konnte das Schiff den Helgoländer Südhafen nicht mehr verlassen. Aber die Sylvestergäste mußten noch zurück aufs Festland gebracht werden, die Inselbewohner heimreisen nach dem Weihnachtsurlaub. Winterliche Helgoland-Besucher, das sind großteils Menschen jenseits der 60, die sich, in die neueste Outdoor-Kleidung gehüllt, den Wind ins Gesicht blasen lassen, die Klippen entlang oder auf dem Strand der Düne, wo zum Jahreswechsel die Robben ihre Jungen bekommen.

Sturm ist der erste Eindruck auf der nächtlichen Insel, nachdem das Schiff auf der zweieinhalbstündigen Überfahrt schon ordentlich durchgeschüttelt worden war. Verlassen liegt Helgoland da, der Leuchtturm sendet Signale in den Nachthimmel. Durch ein Gewerbegebiet läuft man ins Dorf, das mit raffinierter Architektur aufwartet: Höhere Gebäude am Rand flankieren die Siedlung, in deren engen Gassen deshalb beinahe Windstille herrscht. Das auf zwei Etagen, dem Unter- und dem Oberland, in den fünfziger Jahren wiederaufgebaute Helgoland bildet ein Ensemble von großer Geschlossenheit. 1952, als die völlig zerstörte Insel von den Briten zur Wiederbesiedlung freigegeben wurde, konnte der Ruf nach musealer Rekonstruktion zugunsten einer qualitätvollen modernen Architektur abgewehrt werden. Bewußt verzichtete man auch auf den Bau großer Hotels, und so lebt die Insel heute noch vorrangig vom sommerlichen Tagestourismus. Einen Investoren- Schandfleck muß man aber auch hier bereits verkraften: Anstelle des maroden Kursaals wurde 1999 ein sogenanntes Designer-Hotel in postmoderner Allerwelts-Architektur errichtet, das sich mit viel Glas vor die zurückhaltend-elegante Fünfziger-Jahre-Bebauung drängt. An die noblen Seebadzeiten – vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20., als die Insel zur Seefestung ausgebaut wurde und Soldaten die Urlauber vertrieben – konnte man nicht mehr anknüpfen. Der Tagestourist, der mit den traditionellen Seebäderschiffen oder auch mit schnelleren Katamaranen aus Hamburg oder von einer Ferieninsel wie Norderney für wenige Stunden nach Helgoland kommt, frequentiert dann die zahllosen Läden, in denen vor allem Schnaps und Zigaretten zollfrei und also für etwa die Hälfte des Festlandpreises angeboten werden. Im Winter sind Tagesausflüge nicht möglich.

Eine angenehme Überraschung ist es dann, daß doch einige Gaststätten geöffnet haben an diesem Winterabend. Und neben den Restaurants, in denen im Sommer die Rentner mit biederer deutscher Küche abgespeist werden – eine rühmliche Ausnahme ist das Restaurant Galerie im Hotel Insulaner, wo ein Franzose kocht –, gibt es ausreichend ansprechende Kneipen, anheimelnde, enge Gaststuben, in denen sich die Helgoländer die langen Winterabende mit Alkohol vertreiben können: den Felsen- oder den Inselkrug, den Klabautermann, die Eiergrogstube. Das gleichnamige Heißgetränk aus der Zeit, als Helgoland britisch war, hat es in sich: In heißes Wasser und reichlich Rum wird auch noch ein Ei geschlagen. Der Wirt scherzt, man müsse nichts bezahlen, wenn man zehn schaffen würde. Dann hätte man zwar 50 Euro gespart, läge aber vermutlich mit einer Alkoholvergiftung in der Nordseeklinik. Daß die Preise auch von den Duty-free-Schnäppchen abgesehen Festlandniveau kaum überschreiten, liegt daran, daß man auf Helgoland keine Mehrwertsteuer bezahlen muß. Das Leben auf der einzigen deutschen Hochseeinsel ist subventioniert.

Was mich interessierte, war nicht zuletzt das Gefühl, einmal wirklich auf einer Insel zu sein – nicht auf einer unüberschaubar großen wie Irland, aber auch nicht in Sichtweite des Festlands, gar mit einer Brücke mit ihm verbunden wie Rügen. Also Helgoland. Wenn man auf dem Oberland steht, sieht man auf beiden Seiten das Meer, bis zur nördlichen Inselspitze, wo die „Lange Anna" in die Nordsee bröckelt. Alle paar Minuten ändern sich die Lichtverhältnisse, schieben sich Wolken ins Bild, dann hagelt es wieder eine halbe Minute, wir befinden uns am offenen Meer. Hinter der Düne gibt es einen geschützten Platz. Dort wartet ein Frachtschiff darauf, ungefährdet weiterfahren zu können.

Helgoland hat viele Liebhaber. Davon erzählt die Inselzeitung Der Helgoländer. Ein Leserbriefschreiber aus Bayern spricht gleich für eine ganze Gruppe von „Dauer-Gästen", die schon seit 30 bis 48 Jahren im Sommer auf die Düne kommen, beschwert sich über zu schnell fahrende Flughafenbusse. Eine Lehrerin, ebenfalls aus Bayern, gesteht ihre Liebe zur Insel, die sie schließlich dazu brachte, sich zur Inselschule versetzen zu lassen.

Das heute nur noch selten gespielte Chorwerk Helgoland von Anton Bruckner, sein letztes abgeschlossenes Werk, wurde 1893 zum 50jährigen Bestehen des Wiener Männergesangsvereins uraufgeführt, und man fragt sich schon, was den österreichischen Komponisten geritten haben mag, das schwülstige Gedicht von August Silberstein zu vertonen, in dem es heißt: „Nun, Gegner, Erbeuter, als Beute ihr bleibt,/gesunken zu Tiefen, geschleudert zum Sand,/das Wrackgut der Schiffe zur Insel nun treibt!/O Herrgott, dich preiset frei Helgoland!" Die deutsch-nationalen Aufwallungen erreichten offenbar auch Wien, als die britische Kolonie Heligoland 1890 wieder deutsch wurde – freilich nicht in einer heroischen Seeschlacht erstritten, sondern von Wilhelm II. eingetauscht gegen Sansibar. Wer damals darüber spottete, daß hier ein „Hosenknopf" gegen die afrikanische Kolonie eingetauscht worden sei, wurde eines besseren belehrt, als sich kurz darauf die strategische Bedeutung der Seefestung erwies.

Die Insel schmückt sich gerne mit Kulturgeschichte. Überall stehen pyramidenförmige Informationsschilder herum, Hinweise auf Bruckners Helgoland, aber auch auf Hoffmann von Fallersleben, der 1841 auf der britischen Insel in nationale Ekstase geriet und das „Deutschlandlied" dichtete, oder auf Werner Heisenberg, der 1925 heuschnupfengeplagt hierher flüchtete und dem dann entscheidende Gedanken zur Quantenmechanik gekommen sein sollen.

Im Aquarium lebt ein einsamer Seehund. Aussetzen kann man ihn nicht mehr, weitere Seehunde will man auch nicht einfangen. Das Tier wirkt aber nicht traurig, sondern irgendwie aufgedreht. Der Mann im Aquarium ist sehr gesprächig. Er ist hauptsächlich damit beschäftigt, Hummer hochzupäppeln, die – einst Exportartikel – nach dem Krieg zur Mangelware wurden. Die britischen Bomben, die Verschmutzung der Nordsee, aber auch natürliche Feinde, die Ursachen seien vielfältig. Der Meeresbiologe wirkt auch aufgedreht. Er erzählt von Schiffen, die auf der Nordsee in Not geraten, von exotischen Fischen, die man zuweilen vor Helgoland beobachten könne, Mondfische etwa, die eigentlich in der Karibik heimisch seien. Es fällt uns schwer, uns von dem monologisierenden Helgoländer loszureißen, der uns um Mitternacht noch einmal, betrunken durch die verlassenen Gassen grölend, begegnen wird. Und uns nicht erkennt.

Text und Fotos: Florian Neuner

 
 
 
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