Ausgabe 2 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Der Sog des Entsetzlichen

Reflexionen auf Berichte und Bilder von Greueltaten

Wenn sie keinen Deut geben wollen, einem lahmen Bettler zu helfen, so wenden sie zehn dran, einen toten Indianer zu sehen.

(Der Spaßmacher Trinculo, in William Shakespeares Der Sturm)

Die berühmteste Reliquie der Kriegsdokumentation

Es ist ein komisches Gefühl, wenn in einer Fernseh-Talkrunde wieder einmal Typen wie der oft als alt und tatterig verhöhnte Auslandsreporter Peter Scholl-Latour das Wort an sich reißen, wenn es um Krieg und Verbrechen „da draußen" geht. Aber es gibt nun einmal wenige, die dem ernsthaft etwas entgegenzusetzen hätten. Es fehlt ihnen einfach die Krisenerfahrung. Was ist Krieg, eine Hungersnot, ein bewaffneter Aufstand? Das Unbehagen darüber, daß viele Kriegszeugen in deutschen Familien nicht mehr leben, bringt mich zu der makabren Einsicht, daß die Menschen diesen extremen Erfahrungsschatz brauchen, um sich wirklich vor neuen Schrecken zu schützen – entsprechend einer alten griechischen Weisheit, die besagt, es müsse im Grunde alle 20 Jahre ein Krieg stattfinden, nur damit er nicht in Vergessenheit gerät. Alternativ bleibt nur, sich an Kriegsberichterstatter, Chronisten der schrecklichsten Begebenheiten, zu wenden. Und ihnen gegenüber steht die Zensur, ausgeübt von religiöser, moralischer oder politischer Macht. Kriegsführende Regierungen versuchen seit den umfassenden Kriegsberichten aus Vietnam, detaillierte Schilderungen von Kriegsgeschehen zu zensieren.

Aus der Serie „was ist was bleibt" von Philipp von Recklinghausen. Portrait des Australiers Daniel, 1995 als Mediziner bei Ärzte ohne Grenzen in Srebrenica (Bosnien), als serbische Militärs die umzingelte Stadt einnahmen und einen Massenmord hauptsächlich an der männlichen Bevölkerung verübten. Das Bild wurde am siebenten Jahrestag aufgenommen, als er das erste mal wieder den Ort der Geschehnisse betritt.

Im Moment, so scheint es, sind Militärberichte wieder gewünscht, Berichte vom Leiden und Sterben jedoch existieren kaum noch. Viele Nachrichten erwecken den Eindruck, es wäre nicht nötig, die Opfer zu sehen, Abstraktionen und Statistiken reichten völlig aus. Korrelationen zwischen eigenem Leid und dem anderer wurden von unlauteren Herrschenden in der Geschichte bekanntlich reichlich ausgenützt. Wozu das führen kann, beschreibt Thukydides schon um 420 v.Chr.: „Die Menschen wurden gleichgültig gegen alles Heilige und Würdige; denn das Unglück wuchs, und sie wußten nicht, was aus ihnen werden sollte. Alle sonst beobachteten Sitten waren erschüttert." (Der Peloponnesische Krieg)

Am Bedürfnis nach Realität und Wahrheit verdienen skrupellose Produzenten heute nicht schlecht. Aus dem Hunger nach Authentizität schlägt die Schmuddelpresse – im Hintergrund läuft die Titelmelodie unserer öffentlich-rechtlichen Hinrichtungsshow Brisant, denn es ist jetzt 17 Uhr, sprich Feierabend – reichlich Kapital. Sie kocht einfach einen Eintopf aus aktuellen Katastrophen. Dabei werden besonders im Hinblick auf kollektive Aggressionen, verstümmelte Libido und alle Neurosen, die reiche, nach innen friedliche Gesellschaften pflegen, Schock-Berichte hergestellt, die hohe Einschaltquoten bringen, ohne damit weitere Ziele zu verfolgen. Schamlose Demütigungen und öffentliche Verurteilungen dienen als Verständigungsbasis einer Nachmittags-Talk- oder besser gleich Gerichtsprozeß-Show. Da versteht ein Mensch am Ende die amerikanischen Folterungen in irakischen Gefängnissen gar nicht mehr als Kriegsverbrechen, eher als privates Snuff-Vergnügen emotionsverstimmter Auslandstouristen.

Und so ist die Unentschiedenheit, die Susan Sontag in ihrem außergewöhnlichen Text Das Leiden anderer Betrachten beibehält, wohl ihrer Neigung geschuldet, Wahrheit destilliert wahrzunehmen. Einerseits fordert sie dazu auf, hinter dem warmen Ofen der Mattscheibe hervorzukommen, sich aufzumachen ins Krisengebiet: „Es ist ja auch viel einfacher, fernab der Gefahr, die Position dessen zu beanspruchen, der sich seine Überlegenheit bewahrt." Andererseits hält sie es auch nicht für „unbillig", „Abstand zu nehmen und nachzudenken", sagt, daß es ihr deplaziert erscheint, „quälende Fotos vom Leiden anderer Menschen in einer Kunstgalerie zu betrachten". Indem sie den Drang der Menschen nach ungefilterter Erkenntnis feststellt, akzeptiert sie einen im Ursprung reinen Voyeurismus, betrachtet dagegen künstlerische Dokumentarbilder, von Fotografen wie Sebastião Salgado oder James Nachtwey skeptisch.

Gleichgültig ob realistisch und ungestellt oder aber künstlerisch inszeniert – Darstellungen, die Menschen im Augenblick höchster Ekstase oder gar im Augenblick ihres Todes zeigen, üben eine solch ungebrochene Faszination auf Menschen aus, daß einige davon zu Ikonen wurden. Vom Todeskampf des Laokoon (um 50 v.Chr.) über die bekannte Darstellung des gekreuzigten Jesus (die Kirche billigte diese übrigens erst um 400 n.Chr.) ist es dann auch nur ein kleiner ikonographischer Schritt zu Robert Capas Bild „Tod des republikanischen Soldaten Frederico Borell García", entstanden am 5. September 1936. Jene Aufnahme ist wohl die berühmteste Reliquie der Kriegsdokumentation überhaupt, gleichsam als Chiffre zu lesen für alles, was mit Kriegsberichterstattung in Verbindung steht. Sie ist bedeutsam, weil sie den Anfang der hautnahen fotografischen Kriegsberichterstattung markiert. Und umstrittten, weil es offenkundig zwei (!) Versionen gab (beide nebeneinander veröffentlicht am 23. September 1936 in Vu) und somit – neben dem erschütternden Beweischarakter – immer auch ein Makel am Wahrheitsgehalt von Fotos haftet.

Es gibt ebenso Zweifel an der Authentizität von Capas Aufnahmen von der Landung der amerikanischen Truppen 1944 in der Normandie. Doch die Wirkung dieser Aufnahmen ist über jeden Verdacht erhaben. Die Öffentlichkeit blickte erstmals auf Aktions-Bilder aus dem Krieg und war tief ergriffen. Dieses schiere „Referential der Grausamkeit" erschuf ein unkörperliches – und damit irreales – Bewußtsein vom Krieg, quasi eine „Realität der Simulation" (Jean Baudrillard). Und Fotografen wie Robert Capa oder W. Eugene Smith, Schriftsteller wie Ernest Hemingway oder John Steinbeck wurden als Kriegsberichterstatter zu Prominenten. Die Zeitschrift Picture Post zeigte 1938 Robert Capas Porträt auf ihrem Titelblatt, im Innenteil sah man seine Fotos. Diese Verehrung ist geblieben, blickt man auf die Plakate am Martin-Gropius-Bau, von denen ein charmanter, eine Zigarette schmauchender Capa uns entgegenblinzelt. Es gibt halt ein magisches Gefühl, wenn wir von Menschen erfahren, die weder Tod noch Teufel scheuen, uns die Abgründe unserer Seele schauen zu lassen. Capa wird dabei verehrt wie einst ein Hieronymus Bosch, Anhänger und künstlerischer Berater einer sich programmatisch den Weltuntergang nutzbar machenden Sekte.

Kollektiv-maschinelles Sporttöten

Der Schriftsteller Guillaume Appollinaire verdichtet in der Fiktion seines Romans Die Elftausend Ruten (1907) die Grauzone zwischen Sexualität, Gewalt und Voyeurismus. Indem er zunächst mit kleinen Abscheulichkeiten beginnt, den Leser danach in immer schauderhaftere Szenen der Begierde und Zerstörung hinabführt, ertappt dieser sich angewidert, aber begierig beim Weiterlesen ­ resultierend aus der Empörung darüber, daß der Autor es wagt, mörderische Exzesse und Abgründe qualitativ und quantitativ immer weiter zu steigern. Alles mündet in einen nicht absehbaren Wahn aus Horror und Entsetzen. Am Ende wird man aber verstehen, daß dies ein lehrreicher Bericht mit System gewesen ist und daß etwas nicht obszön wird, nur weil es drastische Schilderungen enthält. Obszön ist zunächst nur die ungezügelte Gier nach irrationalen Gefühlen und Abgründen, Verbrechen sowie die Absicht, diese Gier zu bedienen und daran zu verdienen. Appollinaire schickte mit dieser bitteren Gesellschaftssatire, schon vor dem Tod von Ypern und der deutschen Terrorarmee, eine Ahnung darüber voraus, wie ein privater Lustmord in ein kollektiv-maschinelles Sporttöten sich verwandeln kann. Er steht damit in der Tradition jenes didaktischen Overkills, für den zuvor schon ein Marquis de Sade völlig zu unrecht gescholten und verspottet wurde. Jener de Sade, der seinen Geschichten Sätze wie: „Die Leser sollen sich die Größe und Gefahr vergegenwärtigen, die stets den bedroht, der sich alles gestattet, um seine Wünsche zu befriedigen" als Einleitung vorausschickte.

In derlei künstlerischen Experimenten, die den Rezipienten auf relativ banaler Ebene fesseln und verführen, drückt sich ein moralischer Wert aus. Es genügt meist nicht, Aufmerksamkeit auf Menschen und Leid zu lenken, das Leid und Verderben zu thematisieren. Die wirkungsvolleren Methoden sind aber natürlich nicht ohne Risiko. Und so scheuen sich viele, diese einzusetzen. Ist es auch begrüßenswert, daß z.B. ein Jugendbuch wie Die Welle eine große Wertschätzung genießt, in Schulen als Lehrmittel eingesetzt wird, so ist es doch bedauerlich, daß über das eigentliche Experiment dort nur gelesen, es nicht nachvollzogen wird. Positiv motivierte, aber missionarische Propaganda ist billig. Und die Tatsache, daß es Voyeuren – ich beziehe mal alle Menschen mit ein – am Ende herzlich egal ist, ob sie erzieherisch aufs Kreuz gelegt wurden oder nicht, spricht für Verführung und Tricks. Man lernt im Experiment oft mehr als durch eine schlecht kommentierte, aufrichtige Fotografie aus dem Kriegsgebiet. Voyeurismus endet im Grunde dort, wo sich Erkenntnis, Mitleid – und letztlich auch Hilfs-Motivation einstellen. Dies ist aber, wie ich glaube, nicht ohne mutigere Formen zu erreichen. Die Aufforderung, Kinder Krieg und Folter spielen zu lassen, stößt halt in vielen Haushalten auf Ängste und Vorbehalte. Und mutige Dokumente, wie der blutige Film Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang (1966) von Hans-Dieter Grabe, die lediglich die Folgen von Greueltaten dokumentieren – hier die Arbeit einiger Chirurgen und deren Helfer des Lazarettschiffs Helgoland vor der Küste Vietnams – haben es im Nachmittags-Folterprogramm irrwitzigerweise schwer.

Warum sollte man nicht mit dem Strom der Verwundeten und deren Schmerzen nah und ausführlich konfrontiert werden? Man begreift, was vielerorts angerichtet, produziert wird, nämlich Leid am Fließband. Besser, wenn man eine Zeit am Fließband verweilen darf. Und was wäre dann so schlimm am Ausruf der Kinder: „Mama, wann kommt endlich der Arzt, tut keiner die Kompresse da drauf?" Trotz des verharmlosenden Titels – denn es gibt nirgendwo „leichte Kämpfe" – zeigte Grabes Film durchaus Wirkung. Laut dem Filmautor verweigerte ein Jugendlicher den Wehrdienst, ein junger Arzt fuhr 14 Tage danach nach Vietnam, und eine Krankenschwester meldete sich freiwillig.

Jörg Gruneberg

Ausstellungen/Bücher:

„Robert Capa ­ Retrospektive", noch bis zum 18. April im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, Kreuzberg

„Triumph und Trauma. Sowjetische und postsowjetische Erinnerung an den Krieg 1941-1945", ab 4. Mai im Deutsch-Russischen Museum, Zwieseler Straße 4, Karlshorst

John Steinbeck: An den Pforten der Hölle. Kriegstagebuch Juni bis Dezember 1943. München 1992

Susan Sontag: Das Leiden anderer Betrachten. München 2003

Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. München 1959

 
 
 
Ausgabe 2 - 2005 © scheinschlag 2005