Ausgabe 2 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Berlin 1905

24. Februar bis 23. März

Anna Kobelt ist 35, lebt mit ihrem Ehemann, zwei Kindern und einer alten Mutter in Friedrichsberg und glaubt, überall Verfolger zu sehen. Am 27. Februar nimmt sie in der Wohnung Lysol. Nachdem ein Arzt die Gefahr beseitigt hat, will sie am Morgen des 28. Februar vom Balkon ihrer Wohnung im 3. Stock auf die Straße springen, wird aber auch daran gehindert. Eine Stunde später eilt sie über den Hof in den zweiten Stock des Quergebäudes und springt durch das Flurfenster auf den Hof hinab. Ein Frau, die sie noch an den Kleidern packt, kann die schwere Last nicht wieder zurückziehen. Frau Kobelt erleidet schwere Brüche und innere Verletzungen. Ein Lückscher Wagen bringt sie in ein Krankenhaus.

Eine verwickelte Erbschaftsgeschichte beschäftigt die Stadtverordnetenversammlung. Der im Juli 1903 verstorbene Rentier Spargnapani hat die Stadtgemeinde als Universalerbin seines Vermögens eingesetzt für den Fall, daß er, wie geschehen, nach seiner Ehefrau versterben sollte. Die letztere hat ihren Ehemann als Vorerben, dessen inzwischen in Amerika verstorbenen Bruder als Nacherben und schließlich die Stadt Berlin fideikommisarisch substituiert; letztere mit der Bestimmung, daß der Nachlaß zu einer Stiftung für verarmte Handwerker Verwendung finden solle. In einem späteren Testament hat der Ehemann Spargnapani der Stadt wieder die Verpflichtung auferlegt, auf alle Schmucksachen, Möbel usw. sowie auf das in der Schweiz belegene Vermögen der Frau Spargnapani zugunsten der gesetzlichen Erben zu verzichten. In einem dritten Testament und verschiedenen Nachzetteln wird der Wille des Erblassers dann noch genauer präzisiert.

Das den Spargnapanischen Erben gehörige Haus Unter den Linden 50 war früher an den Restaurateur Dressel vermietet, die jetzige Mieterin, Firma Jacob Knoop Söhne, hat Vertrag bis 1915; der letztere sollte aber nach dem Tode des Erblassers kündbar und die Stadt dann verpflichtet sein, dem Mieter für jedes fortgefallene Jahr 10000 Mark Entschädigung zu zahlen usw. Es konnte nicht ausbleiben, daß alle diese verzwickten Bestimmungen zu Meinungsverschiedenheiten aller Art zwischen den Interessenten führen mußten. Der Magistrat hat sich daher entschlossen, mit den 21 Intestaterben einen Vergleich dahin abzuschließen, daß die Stadt Berlin aus dem Nachlaß der Ehefrau circa 24000 Mark ohne jedweden Abzug erhält und auf die Erbschaft des Ehemanns Verzicht leistet. Nur so können langwierige Prozesse vermieden werden, deren Ausgang zudem sehr zweifelhaft erscheint. Die Stadtverordneten dürften sich dieser vernünftigen Ansicht wohl anschließen.

In diesem Frühjahr soll seitens der Allgemeinen Berliner Omnibusgesellschaft mit dem Automobilbetrieb versuchsweise begonnen werden. Sechs Wagen neuester Konstruktion sind im Bau und werden zunächst auf der Strecke Bülowstraße-Stettiner Bahnhof verkehren. Der Straßenbahn kann und wird eine höchst fühlbare Konkurrenz erwachsen, wenn die Fortschritte der Technik einen Automobil-Omnibus-Betrieb großen Stils ermöglichen sollten.

Falko Hennig

Am 9. März lädt Falko Hennig bei Radio Hochsee zu „Frankie and Johnny, Archäologie eines Songs" um 20.30 Uhr ins Kaffee Burger, Torstraße 60, Mitte. Gast-Experte: Matthias Penzel. Informationen: www.Falko-Hennig.de

Der Straßenbahn wird fühlbare Konkurrenz erwachsen, wenn die Fortschritte der Technik einen Automobil-Omnibus-Betrieb im großen Stil ermöglichen sollten.

Bild: Archiv Hennig

 
 
 
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