Ausgabe 2 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Far West

Charlottenburg feiert Geburtstag

Charlottenburg, bis 1920 eine der acht Großstädte, die verwaltungstechnisch in Groß-Berlin aufgingen, feiert dieses Jahr den 300. Jahrestag seiner Namensverleihung. Eine etwas merkwürdige Festivität nicht nur für diejenigen, die dabei an Städte denken, die seit 1200 Jahren das Stadtrecht innehaben. Die Charlottenburger könnten immerhin damit kontern, daß gerade diese kleine Zahl ein Grund zum Feiern sei, ist ihre Häuseransammlung doch eine der letzten Städte, die hierzulande noch gegründet wurden. Doch auch aus einem anderen Grund wirkt das Jubiläum etwas erzwungen: Eine Stadtgründungsurkunde kann Charlottenburg nämlich nicht vorweisen, lediglich einen Brief König Friedrichs vom 5. April 1705. In diesem befiehlt er, „zu Ehren seiner wenige Wochen zuvor verstorbenen Gattin Sophie Charlotte das Schloß Lietzenburg und den zugehörigen Ort in Charlottenburg umzubenennen und eine Stadtrechtsurkunde auszufertigen". Der Beweis aber, daß der Anordnung damals Folge geleistet wurde, fehlt.

Doch da man die Feste eben feiern soll, wie sie fallen ­ auch wenn ein wenig nachgeholfen wurde ­ beteiligt sich der Verein StattReisen an dem Jubiläum mit monatlichen Rundgängen durch den Schloßpark und zwei angrenzende Stadtviertel. Die Spaziergangspremiere im Februar war außerordentlich gut besucht: Fast 100 Menschen ließen sich über die Historie des Stadtteils, aber auch über neue Entwicklungen aufklären. So erfuhr man gleich zu Beginn, daß die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, derzeitige Managerin des Charlottenburger Schlosses samt Garten, vom Bundesverwaltungsamt angehalten wurde, mehr Geld zu erwirtschaften, und demnächst drei Euro Eintritt für den Parkbesuch verlangen will. Lustwandeln hat eben seinen Preis. Einen anschaulichen Vorgeschmack auf die zu erwartende Reglementierung durften die Rundgangsteilnehmer bereits jetzt erfahren, als eins der Tore, durch das der lehrreiche Spaziergang führen sollte, überraschend verschlossen war.

Ansonsten ähnelte das von Ralph Hoppe am Schloß Referierte den üblichen Berichten zu Royalties: Liebeleien, Gartengestaltung und ein wenig Lokal- und Europapolitik. Während heutzutage die Standeszugehörigkeit höchstens noch für Leser der Boulevardpresse von Interesse ist, hatte sie vor 300 Jahren existenzielle Bedeutung. Der Bau des Schlosses half der kargen Siedlung in der Nachbarschaft erwartungsgemäß wenig. Die dort lebenden ärmeren Menschen fristeten ihr hartes agrarisches Dasein auf dem mageren Sand, und etliche pendelten nach Berlin (jetzt Mitte), um dort als einfache Handwerker etwas Geld zu verdienen. Die reichen Berliner dagegen genossen die Sommerfrische auf dem Land. Die Reisezeit zwischen dem Charlottenburger und dem Berliner Schloß betrug übrigens damals genau wie heute eine Dreiviertelstunde ­ wenn man denn ein Pferd besaß.

Der zweite Teil der Tour führte durch historische Siedlungsstrukturen aus der Anfangszeit von Charlottenburg – in ganz gegenwärtigem Straßenlärm. Entlang der Schloßstraße sollte die barocke Stadt für Schloßbedienstete und Militärangehörige entstehen, der Prozeß kam aber nur schleppend in Gang. Das einzige, was die Mitreisenden der Stadtführung, eine beunruhigend homogene Gruppe, bei diesem Rundgang zu einem öffentlichen Ausdruck bewegte, einem von allgemeiner Heiterkeit, war die Kunde, daß am Hof sogenannte Kammertürken gearbeitet hätten, die ersten Türken in der Region. Ihre Häuser standen an der Schloßstraße, noch immer eine der breitesten Straßen Berlins. Heute wohnen die Türken insbesondere im Kiez um den Klausenerplatz und machen immerhin zwölf Prozent der Anwohner aus. Im Schloß müssen sie aber nicht mehr arbeiten.

Die städtische Entwicklung Charlottenburgs gewann nach 1830 an Schwung, als sich am Spreebogen Industriebetriebe ansiedelten, z.B. Siemens und Schering. „Am Knie" (jetzt Ernst-Reuter-Platz) und an der Berliner Straße (heute Otto-Suhr-Allee) wurden pompöse Wohnhäuser für wohlhabende Leute gebaut, und die Villenkolonie Westend entstand allmählich. Das Gebiet um den Klausenerplatz ­ der dritte Abschnitt der Tour ­ bestand bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch aus Wiesen und Feldern und wurde ab 1870 bis zum Ersten Weltkrieg vorwiegend mit gründerzeitlichen Mietskasernen bebaut. Der wirtschaftliche und städtebauliche Aufschwung ließ Charlottenburg ab 1860 zur reichsten Stadt Preußens werden. Die Zahl der Einwohner stieg exorbitant, bis Charlottenburg die elfteinwohnerstärkste Stadt Deutschlands war. Waren es 1850 noch 10000 Einwohner, galt sie ab 1893 mit 100000 Einwohnern als Großstadt und hat heute mit 309000 Einwohnern etwa 11000 weniger als 1914.

Der der Industrialisierung entsprießende Reichtum wurde logischerweise von der Herausbildung einer Unterschicht begleitet: Der Klausenerplatz, der Mierendorffplatz, die Wilmersdorfer Straße und Martinekenfelde (heute Kaiserin-Augusta-Allee) galten wahlweise als verrucht oder verwahrlost oder beides. Um dem entgegenzuwirken, legte der Charlottenburger Magistrat den reichen Bürgern der Stadt soziales Engagement nahe. So wurde die Erwachsenenbildung ins Leben gerufen und 1905 eine Volkshochschule gegründet, die eine wichtige arbeits- und sozialpolitische Funktion für unvermögende Leute hatte, besonders für Frauen. Doch da man die Arbeiter nicht nur mit Bildung beschäftigen wollte, durften sie nach dem Ersten Weltkrieg in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen den Lietzenseepark und die Jungfernheide als öffentliche Parks anlegen.

Mit der Industrialisierung Charlottenburgs ging die Institutionalisierung bürgerlicher Kultur einher: Das Schillertheater und das Theater des Westens entstanden, und in den zwanziger Jahren kamen dann die Kinos, Cafés und die ersten teuren Boutiquen am Kurfürstendamm hinzu. Bevor Anfang der zwanziger Jahre die russischen Zuwanderer dem Stadtteil den Namen Charlottengrad einbrachten, waren ein Großteil der zugezogenen Industriellen, Künstler und Intellektuellen Juden und machten Charlottenburg zusammen mit Wilmersdorf zu dem Bezirk mit dem höchsten Anteil jüdischer Menschen in Berlin. Die Initiatoren des Rundganges hielten diesen Aspekt aber nicht für erwähnenswert. Womöglich weil sie dann auch ausführlich auf die spätere Deportation der jüdischen Charlottenburger hätten eingehen müssen. Berichtet wurde dagegen über die kommunistische Community im Kiez um den Klausenerplatz, der in den dreißiger und vierziger Jahren den Beinamen Kleiner Wedding trug.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verwendete Charlottenburg einigen Ehrgeiz darauf, sich als Schaufenster des Westens zu dekorieren. Das Europa Center (1963-65) und das ICC (1970-79) wurden errichtet. Auch die Hausbesetzungen in den achtziger Jahren kamen auf dem Spaziergang zur Sprache. Aufgrund diagno-stizierter „baulicher, städtebaulicher und funktionaler Mißstände" in der dicht bebauten Gegend südlich des Spandauer Damms und auch wegen der Nähe zur Touristen-Attraktion Schloß war das Gebiet 1963 in das erste Sanierungsprogramm Berlins aufgenommen worden. Das Konzept: „Flächensanierung", „Entkernung", Abriß, Neubau, höhere Mieten. Die zahlreichen Hausbesetzungen in Berlin, zehn davon um den Klausenerplatz, trugen entscheidend zur Revision dieses Ansatzes bei und zur Initiierung der sogenannten „behutsamen Stadterneuerung". „Behutsam" ist dabei allerdings nicht wörtlich zu nehmen: Das letzte besetzte Haus im Kiez wurde 1983 geräumt.

1995 wurde das Gebiet aus der Sanierung entlassen, aber wegen der Angst der Bewohner vor Spekulationen, Vertreibungen und Mietsteigerungen in der BVV eine Milieuschutz- und Erhaltungssatzung verabschiedet. Das Klischee vom reichen und spießigen Charlottenburg wird beim Rundgang von StattReisen jedenfalls nachdrücklich revidiert. Die Reichen muß man heutzutage wieder in Berlin-Mitte suchen.

Andrea Geldner/Katrin Scharnweber

Der nächste Rundgang von StattReisen e.V. startet am Sonntag, dem 6. März um 14 Uhr am Reiterdenkmal vor dem Schloß Charlottenburg. Teilnahmegebühr 8 bzw. 6 Euro

 
 
 
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