Ausgabe 1 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Sat 1 ist ein Fisch

Es fand im zweiten Hinterhof eines renovierten und zum Gründerzentrum umgebauten Gebäudekomplexes in Prenzlauer Berg statt. Drei Treppen hoch betrat man einen mit Stühlen und Aufnahmegeräten ausstaffierten, aber sonst weißgetünchten Raum und hing sich erst einmal auf. Schon klebte ein Namensschild am Pullover, der Vorname, versteht sich. Ich begann schon leicht zu transpirieren und setzte mich, mit einem Glas Orangensaft vom Buffettisch bewaffnet, schnell auf einen freien Stuhl. Man saß eng beisammen. Die Frauen rechts von mir waren schon tapfer dabei, sich kennenzulernen. Verbindendes Thema war der von ihnen bereits entdeckte Fragebogen, der für jeden jeweils unter dem Stuhl zusammen mit Stift und Schreibunterlage bereit lag. Die durchweg männlichen Probanden links von mir schwiegen wie ich selbst auch. Eine Kamera, die aus der Totalen die ganze Szenerie erfaßte, sowie ein Kunstkopfmikrophon, das in der Mitte des Raumes von der Decke baumelte, dazu herumstehende mit Malpapier bespannte Stellwände ließen Gedanken an ein psychologisches Experiment aufkommen, wie es in der Behaviourismus-Forschung der sechziger Jahre vermutlich üblich war.

Daß wir zum Thema Medien befragt werden sollten, die ganze Sache dreieinhalb Stunden dauern und wir anschließend mit 45 Euro nach Hause gehen würden, wußten wir. Elke und Jan, die Moderatoren, ließen uns aber im Dunkeln darüber, in wessen Auftrag und zu welchen Zwekken diese Session veranstaltet werden würde. Wem das nicht passe, könne selbstverständlich sofort gehen. Flight or fight! Alle blieben.

Statt daran noch viele Gedanken zu verschwenden, sollten die 30- bis 40jährigen jetzt doch lieber über ihre Mitprobanden nachdenken: Was hören Stefan, Ulma, Carsten, Mareike, Xava, Francesco und sechs weitere im Raum anwesende Personen für Musik? Was ist ihre Lieblingsbeschäftigung in der Freizeit? Inwieweit sind sie in Sachen Klamotten/Stil, Musik, Sport, Beauty und Technik auf der Höhe der Zeit? Das galt es anhand einer Skala zwischen eins und sechs zu bewerten. Fragendes, schweigendes Begutachten in die Runde löste sich ab mit mehr oder weniger unsicherem Ausfüllen des schon erwähnten Fragebogens. In 15 Minuten zwölf mal sieben Felder zu beschriften war gar nicht so leicht. Ich kritzelte überall jovial Zweien und Dreien hin, dazu Pop, Grunge, Electro, Yoga, Computer, Ausgehen ... Gott, was ziehe ich denn zu Hause an, wenn ich mich wohl fühle? Dieses Geständnis war auf der Rückseite des Fragebogens zu machen.

Der wird schließlich beiseite gelegt und stattdessen jeder durch seinen Nachbarn vorgestellt, den man zuvor im Zwiegespräch nach Lieblingssendung, -band und Freizeitbeschäftigung abgecheckt hatte. Nun erhob sich aber Jan, jetzt wurde assoziiert! Was fällt Euch zum Thema Politik ­ Freizeit ­ Arbeit ­ Familie ­ Freunde ­ Fernsehen etc. ein? Macht doch Spaß, einfach so drauf los zu „brainstormen". Was zum Thema Marken? Jan guckte an unseren Klamotten herunter. Danach ging es um Medienverhalten. Welche Medien benutze ich wann und wo am Tag? Was hat sich dabei im Gegensatz zu früher verändert? Schnell wurde das Problem der begrenzten Aufnahmefähigkeit, das der Berieselung und Kommerzialisierung sowie der Überfülle an Medienformaten und -formen infolge der Digitalisierung herausgearbeitet. Die Frage, wie etwaige eigene Kinder vor der Medienflut bewahrt werden könnten ­ es gab ein paar alleinerziehende Mütter im Raum ­ interessierte unsere Moderatoren eher weniger, vielmehr wollten Jan und Elke, daß wir nun versuchten, einzelne Fernsehsender jeweils mit einem bestimmten Tier in Beziehung zu setzen. Arte war ein Leopard oder Panther, RTL 2 eher eine Hyäne oder Geier, Sat 1 ein Fisch.

Dann wurden Kleingruppen gebildet, um die Frage zu beantworten, wie man für Freunde ein schönes Wochenende in Berlin gestalten könnte. Geld spiele keine Rolle. Wir Individualisten mußten dabei erst einmal einen Konsens untereinander finden, der sich dann durch die Bank weg als sehr konsumfreudig entpuppte: schick oder originell essen gehen, „brunchen", in Cocktailbars „chillen", ein Schiff oder Hubschrauber chartern, Wellness im Liquidrom ...

Endlich war Pause. Professionelles Catering. Ich stopfte mir ein paar belegte Brötchen hinter die Kiemen. Gedämpfter Smalltalk. Wurde jetzt auch aufgezeichnet? Wieder auf unseren Plätzen ging es nun um die derzeitigen Befindlichkeiten der Einzelnen und um die Fragen: Was ist Jugend? Wer bin ich heute? Was hat sich in meinem Selbstbild zu früher verändert? Einige Frauen betonten, daß sie sich heute freier fühlen würden als früher, freier von den Erwartungen anderer. Freundschaften würden seltener, aber dafür intensiver. Der von Jan in einer neuen Assoziationsrunde in den Raum geworfene Spruch „Ich bin anders" fand keinen Anklang unter uns Mittelalterlichen ­ ebensowenig der Ausspruch „Ich will erfolgreich sein und viel Geld verdienen". Schließlich käme es auch auf die Gesundheit an.

Nun kamen doch noch die Malwände zum Einsatz, vor denen man, wieder in Kleingruppen sortiert, etwas ratlos stand. Der typische weibliche und männliche Protagonist unserer Tage in unserem Alter sollte zu Papier gebracht werden. Leben wir nicht im Individualismus? Wir entschieden uns für den männlichen Langzeitstudenten mit Rollkragenpulli, der nun schon das 20. Semester Sozialpädagogik studiert, und für eine etwas jugendlich herausgeputzte, mit Louis Vuitton-Tasche behängte und längst im Leben stehende Krankenschwester, die noch nach dem Richtigen Ausschau hält. Dazu gesellten sich ­ auf den anderen Tafeln ­ der aus „Mitte" entsprungende IT-Nerd und Nebenbei-DJ mit Laptop-Tasche, der seine Neurosen pflegende und antimaterialistisch eingestellte Musiker und Selbstverwirklicher aus dem zweiten Hinterhaus und der „gesettelte" Rocker mit Kind und Motorrad auf männlicher Seite sowie auf weiblicher die alleinerziehende, aber selbst- und modebewußte Mutter, die Schickse aus Schöneberg mit spitzen Stiefeln und zwei Jobs und die naturliebende, Pilates machende Freiberuflerin mit aufgeklärtem Habitus.

Brav filmte Jan jetzt diese Kritzeleien ab, während die sprechbegabteren Probanden dazu erläuternde Erklärungen machten. Die Zeit war nun aber eigentlich schon abgelaufen, doch mußten noch einige Fragen erörtert werden. Welche dieser Figuren seien zukunftstauglich? Welches Modell sterbe aus? Womöglich der Langzeitstudent und der kreative Gammler, weil es in Zukunft weniger finanzkräftige Eltern geben wird? Und die Alleinerziehende? Wird sie als Lebensmodell weiter zunehmen? Die Probanden, auf ihre eigene Zukunft hin befragt, blieben nachdenklich bis indifferent. Die Luft war jetzt auch raus. Man wollte endlich seine Kohle und gehen. Man hatte sich Mühe gegeben, Engagement gezeigt und etwas von sich sowie auch als gemeinsame Kohorte preisgegeben.

Noch Anmerkungen, Verbesserungsvorschläge, Ergänzungen, Fragen? Ja, da war doch noch was. Die Eingangsfrage. Aber auch daraus konnte noch ein lustiges Ratespiel gemacht werden. Ja, die Studie, an der wir gerade mitgewirkt hätten, sei von einem Fernsehsender in Auftrag gegeben worden. Ratet mal welchem? Richtig, MTV und VIVA. Die interessieren sich verstärkt für die Altersgruppe der 30- bis 40jährigen!

Die Mittelalterlichen sahen zu, daß sie ihren abgepackten Briefumschlag bekamen, und verließen schnell das Gebäude.

Jan Schlaeger

 
 
 
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