Ausgabe 1 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Gesellschaftsveränderung, praktisch

Der Wettbewerb „evolutionäre zellen 2004"

Ob etwas damit gewonnen wäre, wenn man Kuhställe mit Mozart beschallen oder „Wutboxen" aufstellen würde, in denen jeder schriftlich seinen Unmut abladen kann, wenn es mehr multimediale Reformationsgottesdienste geben oder die Initiative „Selber leben" Menschen vom Fernsehen abbringen würde? Fragen, die eine Ausstellung in Hagen aufwirft. Der von der Frankfurter Gruppe finger e.V. letztes Jahr schon zum zweiten Mal initiierte Wettbewerb „evolutionäre zellen" hat wieder wie eine Sonde einen Querschnitt dessen zutagegefördert, was es derzeit an sozialen Projekten und Selbsthilfegruppen, politischer Spaßkunst und Ansätzen zu alternativen Ökonomien gibt. Die 283 Einreichungen, aus denen fünf gleichberechtigte Siegerprojekte gekürt wurden, sind derzeit alle im Karl Ernst Osthaus-Museum in Hagen zu sehen, Anfang März wandert die Ausstellung weiter in die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in Berlin.

Man muß schon viel Zeit mitbringen, um sich auch nur einen groben Überblick über das Material zu verschaffen. Denn diese Ausstellung zu rezipieren heißt vor allem, die zweiseitigen Selbstdarstellungen der Teilnehmer zu lesen. Eine Gruppe kämpft für die Schließung des Abschiebelagers Halberstadt, eine andere bloß für bessere Studienbedingungen in Dresden; einer will mit öffentlichen Grillfesten auf die Problematik der Massen-Hühnerhaltung aufmerksam machen, wieder ein anderer hat ein schlichtes, nicht näher ausgeführtes Konzept eingereicht: „Realisierung der DDR-Verfassung ohne führende Rolle der Partei". Wie schon bei der Präsentation der Ergebnisse des ersten Wettbewerbs 2002 hat man auch in Hagen Wert auf maximale Transparenz gelegt: Farbige Streifen an den Wänden markieren, wie weit es die einzelnen Projekte im Wettbewerb geschafft haben, ob sie gleich in der ersten Runde aussortiert wurden oder in die engere Wahl kamen.

Natürlich haben sich, dem Kunstkontext und dem Präsentationsort Museum geschuldet, wieder eine Reihe von Künstlern an dem Wettbewerb beteiligt, wenn auch weniger als beim ersten Mal. Doch wer mit Fotos oder Malerei vorstellig wurde, konnte nicht mit dem Interesse der Jury rechnen, der u.a. der Dachverband der Kritischen Ak-tionärinnen und Aktionäre, die Kunstsportgruppe Umgehungstechnik aus Berlin und Veronika Kaup-Hasler, Leiterin des Festivals Theaterformen 2004, angehörten. Denn die Wettbewerbsfrage „Wie gestalten Sie Ihre Gesellschaft?" zielte nicht in erster Linie auf Theorie oder rein symbolisches Handeln, sondern wollte Laien und Profis ansprechen, die „selbstbeauftragt ihr gesellschaftliches Umfeld gestalten" und dabei auch schon auf Ergebnisse verweisen können ­ basierend auf der These, „daß wichtige gesellschaftliche Veränderungen durch selbst organisierte Initiativen vorbereitet und ausgelöst werden können".

Man kommt bei vielen Beiträgen ins Grübeln, ob man wirklich von evolutionärem Potential ausgehen darf oder ob nicht doch nur ein kleiner Schrebergarten bestellt wird. So haben an dem Wettbewerb viele ehrenwerte Selbsthilfe-Initiativen, aber auch auffallend viele Wohnprojekte teilgenommen, die ­ ökologisch korrekt ­ das Herz jedes grünen Stadtrats höher schlagen lassen würden, denen man aber schwerlich gesellschaftsverändernde Kraft zusprechen wird. Vielversprechender sind da Ansätze, die subversiv in die Ökonomie einzugreifen sich vorgenommen haben. So entwirft etwa Peter Kees aus Berlin ein „Unternehmen Zukunft ­ Leben ohne Geld" oder will die „Selbstbedienungszentrale" eine „Gratisökonomie" Wirklichkeit werden lassen. Vito Focaccia, einer der Preisträger, widmet Geldscheine gar in ein Kommunikationsmedium um, indem er mit Stempeln Botschaften auf ihnen anbringt.

Die preisgekrönten Projekte spiegeln die Vielfalt und Heterogenität des Materials: unter ihnen das indonesische „Community History Project" – trotz internationaler Ausschreibung einer der wenigen nicht-deutschen Beiträge –, das Jugendliche zu einer aktiven Geschichtsschreibung von unten anzuleiten sucht, aber auch die im Kunstbetrieb etablierte Wiener Gruppe WochenKlausur, die ein „Jahresprogramm für geistig Behinderte" in einem Pflegezentrum bei Graz entwickelt und durchgeführt hat. Einer seit 25 Jahren existierenden Wohngemeinschaft in der Kreuzberger Naunynstraße, die in dieser Zeit mehr als 200 Personen aus 50 Ländern beherbergt hat, ist ebenso ein Preis zuerkannt worden wie der Bielefelder Gruppe „Art d'Ameublement", die seit den achtziger Jahren an alternativen Kommunikationssystemen arbeitet.

Florian Neuner

„evolutionäre zellen 2004", noch bis zum 20. Februar im Karl Ernst Osthaus-Museum, Hagen, danach in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst, Oranienstr. 25, Kreuzberg, www.fingerweb.org

 
 
 
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