Ausgabe 1 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Der Herr sei mein Hirte

Eine Studie über Jugend und Religion

Ich gehe zweimal im Jahr zu einem Gottesdienst: Einmal um 17 Uhr und ein weiteres Mal um 23.30 Uhr. Immer am Heiligabend. Beim ersten Kirchgang begleite ich eigentlich nur meine Mutter, die dort alte Bekannte trifft, sich über den Werdegang der Kinder und das Befinden der Schwiegermutter austauscht. Die Mitternachtsmesse dient als Auftakt für das alljährliche Weihnachtssaufen mit Schulfreunden, in einer der wenigen geöffneten Kneipen. Daß die Veranstaltungen in der Kirche den Zweck haben, einem Gott zu dienen, ist dabei nebensächlich. Es sind der ewig gleiche Ablauf, die altbekannten Lieder, die ehrwürdigen Gebäude und die 2000 Jahre alten Sätze, die mich veranlassen, mit Tausenden von Kleinstädtern in die Kirche zu drängeln.

Die Leitartikler in Provinzpostillen fordern schon seit vielen Jahren eine Rückbesinnung auf die traditionellen Werte des Christentums. Doch die Amtskirchen melden einen stetigen Schwund an Mitgliedern. Nur der Islam und ­ durch den Zuzug osteuropäischer Aussiedler ­ das Judentum gewinnen hierzulande an Bedeutung. Das Kreuzberger Archiv der Jugendkulturen hat jetzt eine Studie von Studenten der Esslinger Fachhochschule für Sozialwesen unter der Leitung von Prof. Kurt Möller über Jugend und Religion veröffentlicht. Bereits im Vorwort verdeutlicht Möller den bescheidenen Anspruch der Studie: Weder soll versucht werden, die angeblichen Säkularisierungstendenzen unter Deutschlands Jugendlichen zu beweisen oder zu widerlegen, noch ein vollständiger Überblick über religiöse Praktiken und Erfahrungen von Heranwachsenden gegeben werden. Es wird lediglich festgestellt, daß Religion und Religiösität für Jugendliche noch immer eine Rolle spielen. Möller gibt einen kurzen Überblick über die einschlägigen soziologischen Thesen und legt dabei größten Wert auf Verständlichkeit, ohne die Forschungsergebnisse seiner Kollegen zu Banalitäten einzudampfen.

Der wesentlich lehrreichere Teil des Buches beinhaltet die qualitativen Interviews, die die Esslinger Studenten mit muslimischen, jüdischen, rechtsradikalen, christlichen und fußballfanatischen Jugendlichen geführt haben. Tatsächlich lassen sich in den Antworten der Befragten Tendenzen ausmachen. So verstehen sich zwar fast ausnahmslos alle teilnehmenden Muslime als religiös und legen großen Wert auf die Befolgung der islamischen Vorschriften, befragt man sie jedoch nach Alkoholgenuß, Fastenregeln oder vorehelicher Keuschheit, zeigt sich, daß sie es gar nicht so engstirnig sehen, wie es das Klischee will. Viele von ihnen interpretieren den Koran lieber etwas freier (Ferru, 19 Jahre: „Alkohol ist nicht verboten, man sagt: Trink das nicht, weil das schadet einem. Das ist eigentlich eine Empfehlung.") oder verweisen auf die Schwierigkeiten, in einem fremden Land die mitgebrachten Traditionen zu befolgen ­ manchmal unfreiwillig komisch: „Es ist schwierig, weil man fasten muß, man muß sehr viele Dinge verfolgen. Man sollte nicht klauen, soll keine Verbrechen machen, das sind halt die Sachen, die im Koran stehen. Und deswegen ist es auch sehr schwierig." (Liridion, 17 Jahre) Daß die muslimischen Jugendlichen sich am Christentum stören, läßt sich mit dieser Studie kaum belegen, nur erklärten Atheisten gegenüber sind sie mißtrauisch.

Die befragten Juden haben kaum Probleme, ihre Glaubensgesetze zu befolgen: Um am Sabbat nicht verbotenerweise einen Lichtschalter zu bedienen, behelfen sich ihre Familien mit Zeitschaltuhren und Bewegungsmeldern.

Die größte Überraschung bieten aber die Gespräche mit den christlichen, größtenteils freikirchlich organisierten Jugendlichen, finden sich doch erstaunlich viele, die in ihren Gemeinden aktiv sind, mehrmals am Tag im Gebet die Zwiesprache mit Gott, Jesus oder dem Heiligen Geist suchen, regelmäßig die Bibel als Ratgeber konsultieren und Sex vor der Ehe als falsch und vor allem dem eigenen Glück abträglich einschätzen. Fast alle von ihnen sind für die genossene christliche Erziehung dankbar, halten sich für ausgeglichener und offener als ihre ungläubigen Klassenkameraden und haben weniger Angst vor der Zukunft, ruht diese doch ohnehin in der väterlichen Hand Gottes.

Einige von ihnen schrecken auch vor missionarischen Einsätzen nicht zurück. Baptist Kai trägt sogar immer eine arabische Bibel bei sich ­ für den Fall, daß sich ihm die Gelegenheit bietet, einen Muslim zu bekehren. Daß viele Befragte außerdem so werden wollen wie ihre Eltern, macht sie nicht unbedingt sympathisch. Als repräsentativ kann die Auswahl der Interviewten jedoch kaum gelten. Zum einen, weil sie offenbar größtenteils bei Gemeindetreffen aufgesucht wurden, zum anderen, weil die meisten Jugendlichen auf die Frage nach Gott und Kirche vermutlich das Weite suchen.

Die Soziologen sehen die Hauptfunktion von Religionen in der Bewältigung der Kontingenz, also der Einsicht, daß alles auch ganz anders sein könnte und kein sinnhafter Grund für die eigene Existenz ausgemacht werden kann. Bei den interviewten Jugendlichen liegt die Anziehungskraft jedoch offenbar im festen Regelwerk, das ihnen bei Entscheidungen hilft. Die menschliche Freiheit erscheint ihnen nicht als Segen, sondern als Schreckgespenst, das gebannt werden muß.

Auch die weitverbreitete These, Religion liefere vor allem „ein Sinnschema für existenzielle Grenzerfahrungen", insbesondere den unausweichlichen Tod, scheint sich mit den Antworten der Jugendlichen ­ egal welcher Religion ­ nicht stützen zu lassen. So reflektiert sie auch über Bibel- oder Koranexegese oder den Zweck von Liturgien philosophieren, so kindlich sind ihre Vorstellungen von Tod und Jenseits: paradiesische Gärten, eine Existenz ohne Hunger und Blasendruck und sogar harfenspielende Engel.

Religiöse Erweckung erleben Heranwachsende übrigens überdurchschnittlich oft im Auto: Würde es Gott nicht geben, wäre man damals, als man gegen die Leitplanke prallte, nicht unverletzt geblieben. Hat das Klischee über das Fahrverhalten Brandenburger Jugendlicher einen wahren Kern, sollte die Kirche also noch nicht alle Hoffnung fahren lassen.

Susann Sax

Projektgruppe Jugend und Religion: If God Is A DJ ... Religiöse Vorstellungen von Jugendlichen, Archiv der Jugendkulturen e.V in Zusammenarbeit mit dem Verlag Thomas Tilsner, Berlin 2005. 15 Euro

 
 
 
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